Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
erschien auf den verheerten Zügen des Alten, aber nur, um fast augenblicklich wieder zu erlöschen und einem Ausdruck tiefer Verwirrung Platz zu machen. »Besuch?«, murmelte er. »Wer ist dein Gast, Corinna?«
Corinna lächelte nur milde, aber sie warf Andrej einen so verzweifelten Blick zu, dass er sich dem alten Mann weiter näherte und ihm schließlich die Hand auf die Stirn legte, um nach seinem Bewusstsein zu tasten. Eine eigentlich vergebliche Geste, denn er konnte nichts für den alten Mann tun und auch seine Gedanken nicht wirklich lesen. Doch er hatte das Gefühl, dass Corinna es von ihm erwartete.
Tatsächlich … fühlte er etwas, aber es war nicht das Chaos, das er erwartet hatte, sondern eine schreckliche Leere, als blicke er in einen bodenlosen Abgrund. Fast erschrocken zog er die Hand wieder zurück.
»Kannst du ihm helfen?«, flüsterte Corinna.
Andrej schüttelte traurig den Kopf. »Ich bin kein Zauberer, Corinna«, sagte er. Und wahrscheinlich hätte er selbst dann nichts mehr für ihren Vater tun können. Er hatte eine Vorstellung, was dem bedauernswerten Mann zugestoßen sein mochte, aber sie war zu vage – und vor allem zu schrecklich –, um sie in Worte zu kleiden. Plötzlich wurde ihm klar, dass sie ihn vielleicht nur aus diesem einzigen Grund hierhergebracht hatte, und er fühlte sich elend.
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte er leise.
Fast zärtlich ergriff Corinna die schmale Hand ihres Vaters und hielt sie so behutsam fest, als hätte sie Angst, sie zu zerbrechen, deutete aber dann nur ein Kopfschütteln an. Mit der freien Hand wies sie zum Fenster.
Andrej ging hin, insgeheim froh, der Nähe dieses bedauernswerten alten Mannes zu entkommen. Was mit ihm geschehen war, barg die Vorahnung von etwas noch viel Schlimmerem, das noch kommen würde.
Schon um diesen Gedanken zu vertreiben, blickte er aus dem Fenster. Das Glas war von guter Qualität und offensichtlich dick genug, um dem Ansturm der Kälte zu trotzen, doch so unsauber gegossen, dass er alles auf der anderen Seite nur verzerrt und wie aus einem sonderbar falschen Winkel sah – auf eine Art, die einen schwindeln ließ, wenn man zu lange hinschaute. Der Palazzo lag an einem der breitesten Kanäle der Stadt – schon beinahe ein kleiner Fluss – und genau gegenüber dem berühmten Markusplatz. Durch das Glas hindurch waren die prachtvollen Gebäude nur als verschwommene Schemen zu erkennen, aber Andrej sah trotzdem, dass sich der Platz in Erwartung der kommenden Feierlichkeiten schon jetzt mit Menschen zu füllen begann. Vermutlich würde die Hälfte von ihnen schon betrunken sein, bevor der Carnevale richtig begann.
»Wer ist der nette junge Mann, den du mitgebracht hast, Kind?«, hörte er den alten Mann fragen.
Corinna antwortete etwas, das er nicht verstand, so wenig wie die Antwort des alten Mannes. Aber er hörte den nörgelnden Tonfall, in dem er sprach, den Ton eines verstockten Kindes, das seinen Willen nicht bekam. Was immer dem alten Mann zugestoßen sein mochte, Andrej war nicht sicher, dass er tatsächlich Glück hatte, noch am Leben zu sein.
Es verging noch eine geraume Weile, bis er den Schatten einer Bewegung auf dem farbigen Glas bemerkte und Corinna neben ihn trat. »Er schläft jetzt«, sagte sie. »Er schläft sehr viel, seit … seit es geschehen ist, und manchmal vergisst er sofort, worüber wir eben gesprochen haben. An manchen Tagen ist er ganz klar, aber meistens ist er so wie jetzt. Manchmal erkennt er nicht einmal mehr mich.«
»Hast du einen Arzt kommen lassen?«
Andrej schämte sich fast für diese Frage, aber Corinna schien sie ihm nicht übel zu nehmen. »Ein halbes Dutzend. Die besten. Aber sie können ihm nicht helfen. Er ist so seit jenem Abend, als mein Bruder und er weggingen. Ein Gondoliere hat ihn erkannt und hergebracht, aber auch er konnte nicht sagen, was ihm zugestoßen ist.« Sie atmete so tief ein, dass es fast wie ein unterdrücktes Schluchzen klang – was es vermutlich auch war. »Was glaubst du, wie alt er ist?«
Andrej dachte noch einmal an das Gemälde in Corinnas Zimmer und beschloss vorsichtshalber, nicht zu antworten, um ihr nicht noch mehr wehzutun.
»Er wird im Sommer vierundfünfzig«, fuhr Corinna fort. »Ich weiß, er sieht viel älter aus. Einer der Ärzte, die hier waren, hat gesagt, er hätte noch niemals einen älteren Menschen gesehen. Als er wegging, da war er ein stolzer und starker Mann, Andrej. Ich glaube, er war fast so stark wie du, und es gab
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