Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
mir!«
»Ich?« Corinna griff nach seiner Hand und presste sie mit schon fast verzweifelter Kraft an ihre Wange. Er ließ es zu, doch als sie versuchte, seine Fingerspitzen mit den Lippen zu berühren, zog er den Arm zurück.
Es war nicht das erste Mal, dass er dieses Gespräch führte, aber es war ihm noch nie so schwergefallen.
»Du«, bestätigte er. »Glaub mir, ich weiß, du glaubst, ich würde es nicht ertragen, dir dabei zuzusehen, wie du älter und älter wirst, zu einer reifen Frau und schließlich zu einer alten Frau, aber das ist es nicht. Es ist genau anders herum. Du würdest es nicht ertragen.«
»Unsinn!«, schnaubte Corinna. »Ich bin …«
»Noch keine zwanzig«, fiel ihr Andrej ins Wort, ganz bewusst mit kalter, fast schon schneidender Stimme. Er hasste sich selbst dafür, aber er musste ihr jetzt wehtun, um ihr zukünftiges Leid zu ersparen. »Im Moment bin ich älter als du, ein Mann, dessen Aufmerksamkeit dir schmeichelt.«
»Den ich liebe!«, sagte Corinna empört.
»In zehn oder fünfzehn Jahren werden wir gleich alt sein«, fuhr er unbarmherzig fort. »Und weitere zehn oder fünfzehn Jahre, dann werde ich jünger sein als du. Und ich werde es bleiben, mit jedem Tag, der vergeht, ein bisschen mehr. Würdest du es ertragen, deiner eigenen Sterblichkeit ins Auge zu sehen, und das an jedem einzelnen Tag dieses Lebens?«
Zu seiner Überraschung sah ihn Corinna nur an und sagte kein Wort. Vielleicht gerade deshalb konnte er nicht anders, als fortzufahren: »Du würdest mich hassen, Corinna, es würde keine fünfzig Jahre dauern, bis es so weit wäre. Vielleicht tue ich dir jetzt weh, und vielleicht wirst du mich für eine Weile dafür verabscheuen – aber ich habe nicht das Recht, dir dein Leben zu stehlen.«
»Was für eine beeindruckende Rede«, antwortete Corinna. »Hast du lange gebraucht, um sie dir zurechtzulegen?«
»Nein«, antwortete Andrej leise. »Ich habe es erlebt, mehr als einmal.« Einen kurzen Moment lang hielt Corinna die Maske aus gerechtem Zorn noch aufrecht, aber dann füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Dann musst du ein sehr einsamer Mann sein, Andrej.«
Vielleicht ist das der Preis der Unsterblichkeit … hätte er beinahe gesagt. Aber ihm wurde gerade noch rechtzeitig klar, wie theatralisch das geklungen hätte – auch wenn es die Wahrheit war. So lächelte er nur bitter.
»Dann war es das also, zwischen uns?«, fragte Corinna. Sie versuchte zu lachen, und Andrej musste zugeben, dass sie talentiert war -jeden anderen außer ihm hätte sie wahrscheinlich überzeugt. Er erwiderte nichts.
»Und du würdest … nicht noch einmal mit mir nach oben gehen«, fragte sie, »als Abschied sozusagen?«
Das meinte sie nicht ernst. Vielleicht glaubte sie, jung, wie sie war, in einem Moment wie diesem so etwas sagen zu müssen. Andrej beschloss, ihr die Peinlichkeit einer Antwort zu ersparen.
Auch fehlten ihm die Worte. Corinna war gewiss nicht das erste junge Ding, in das er sich verguckt hatte. Im Laufe seines langen Lebens hatte er Dutzende von Frauen gekannt und geliebt, und mit einigen davon war er länger zusammen gewesen, als Corinna überhaupt lebte … und doch war sie anders.
In sie war er nicht verliebt. Er liebte sie.
Aber das durfte nicht sein. Den beiden einzigen Frauen, die er in all den Jahrhunderten seines endlosen Lebens wirklich geliebt hatte, hatte er den Tod gebracht. Ein drittes Mal würde er es nicht ertragen.
»Darf ich dich trotzdem noch um einen letzten Gefallen bitten?«, fragte er.
»Das kommt darauf an«, antwortete sie, ganz in der Art eines verstockten Kindes, das seinen Willen nicht bekommt. Doch dann lenkte sie schnell ein. »Natürlich. Welchen?«
»Dein Freund Rezzori«, sagte er. »Bitte ihn, Abu Dun freizulassen. Meinetwegen soll er uns eine bewaffnete Eskorte mitgeben, die uns bis zur Stadtgrenze begleitet, wenn er sicher sein will, dass wir auch wirklich gehen.«
»Heute?« Corinna sah ihn an, als hätte er etwas vollkommen Absurdes vorgeschlagen.
»Es kann nur in seinem Sinn sein«, sagte Andrej. »Ein Problem weniger.«
»Du weißt nicht, was du da verlangst«, antwortete Corinna. »In ein paar Stunden steht die ganze Stadt kopf. Morgen um diese Zeit ist er wahrscheinlich froh, wenn die Hälfte seiner Signori noch am Leben und in der Lage ist, aus eigener Kraft auf ihren Beinen zu stehen.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Und Rezzori ist nicht mein Freund. Er hat meinem Wunsch entsprochen, dich freizugeben, aber nur,
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