Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
über die Zellen neben Marius erzählt hat?«, murmelte Andrej.
Corinna nickte und starrte den Toten aus großen Augen an. Sie wartete darauf, dass er weitersprach, aber das konnte Andrej nicht. Er hatte das Gefühl, die Antwort auf all seine Fragen schon zu kennen, aber jedes Mal, wenn er danach greifen wollte, entschlüpfte sie ihm im letzten Moment.
Rezzori zog sein Rapier und schob die zerfetzten Kleider des Toten mit der Klinge beiseite – als ob das, was sichtbar war, nicht schon schlimm genug gewesen wäre. Der Tote war beinahe ebenso schrecklich abgemagert wie der Wahnsinnige, der Corinnas Vater umgebracht hatte. Seine Haut war mit zahlreichen alten und neuen Narben übersät, auch da, wo sie nicht vernarbt war, zeigte sie Spuren schwerer Entbehrungen und Misshandlungen, die noch nicht allzu lange zurückliegen konnten. Dennoch: Nicht eine davon war tödlich, und irgendetwas sagte Andrej, dass es nicht die Summe dieser Verletzungen gewesen war, die ihn letzten Endes getötet hatte, sondern etwas anderes und viel Schlimmeres.
Zögernd streckte er die Hand aus und berührte die Stirn des Toten. Die Haut war noch nicht ganz kalt, was Andrejs Verdacht bestätigte. Er war noch nicht sehr lange tot. Aber da … war etwas – wie ein schlechter Geruch, der dieser leeren Hülle anhaftete, als hätte das, was ihm das Leben gestohlen hatte, seine Überreste zusätzlich besudelt, um sie für alle Zeiten zu verderben.
»Und?«, flüsterte Corinna.
Andrej wusste, was sie meinte. Als er die Hand zurückzog, hätte er beinahe erleichtert aufgeatmet. Er hatte das Bedürfnis, die Finger an seiner Hose abzuwischen, gab ihm aber nicht nach. »Jemand hat ihm das Leben genommen«, sagte er.
Jetzt sah Rezzori ihn an, als fühle er sich von dieser Antwort zum Narren gehalten, aber in Corinnas Augen erschien tiefes Erschrecken, denn sie verstand, was er wirklich meinte – oder ahnte es zumindest. »Du meinst –?«
Andrej stand so schnell auf, dass allein die jähe Bewegung sie verstummen ließ, und obwohl er nicht hinsah, bemerkte er das neue Misstrauen, das in Rezzori erwachte. »Ich meine, dass jemand diesen armen Mann umgebracht hat. Und dass es noch nicht lange her ist.«
Bevor Corinna oder der Signore auch nur ein weiteres Wort sagen konnten, eilte Andrej aus dem Raum, um die vier übrigen Zellen zu untersuchen. Sie waren ausnahmslos verschlossen, sodass er die Türen ebenfalls aufbrechen musste. In zweien fanden sie weitere Tote, die auf dieselbe unheimliche Weise ums Leben gekommen waren, die beiden anderen waren leer.
Dennoch waren es diese beiden Kammern, die sein besonderes Interesse weckten. Sie mochten leer sein, das aber noch nicht sehr lange. Etwas ebenso Fremdartiges wie auf beängstigende Art Vertrautes war noch vor kurzer Zeit hier gewesen, das spürte er.
Abgesehen von ihrer Fähigkeit, die Nähe eines anderen Unsterblichen zu fühlen, und der unnatürlichen Schärfe ihrer Sinne, verfügten weder Abu Dun noch er über außergewöhnliche geistige Kräfte. Sie vermochten nicht die Gedanken anderer zu lesen wie Meruhe oder die Sinne der Menschen so zu verwirren, dass es schien, als könnten sie nach Belieben ihre Gestalt wechseln, wie Loki es gekonnt hatte. Und dennoch fühlte er sowohl in Gegenwart des Toten als auch in dieser vollkommen leeren Zelle die Anwesenheit von etwas anderem und auf schrecklich falsche Weise Lebendigem. Es war so unheimlich, dass es ihm Angst machte.
Sein Instinkt schrie ihm zu, auf dem Absatz kehrtzumachen und diesen Ort des Entsetzens zu verlassen. Er wollte der Furcht nicht nachgeben, schon aus Prinzip nicht, und kämpfte etliche Augenblicke dagegen an, trat dann aber doch in den Gang hinaus und nahm eine der brennenden Fackeln von der Wand. Im tanzenden roten Licht bewegten sich Schatten, wo keine sein sollten, und er meinte ein Flüstern zu vernehmen, lautlos und nur für ihn hörbar, begleitet von einem durch und durch bösen Lachen. Du musst die Einsamkeit nicht fürchten, Vater. Ich werde sie mit dir teilen. Die ganze Ewigkeit. Und einen Tag.
Es war die Stimme seines Sohnes. Er fuhr mit einem erstickten Schreckensruf herum und taumelte zurück, als die schmale Gestalt tatsächlich aus dem Dunkel trat. Erst dann begriff er, dass es nicht Marius war, sondern Corinna.
»Was ist hier geschehen, Andrej?«, flüsterte sie mit zitternder, kaum noch beherrschter Stimme. »Was … was hat er … getan?«
Andrej brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass sie nicht von Marius
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