Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
eigentlich unmöglich war. Statt eines Knaben erblickte er einen schönen Jüngling, der seine allerbesten Jahre erst noch vor sich hatte. Seit jener furchtbaren Nacht, in der sie nebeneinander auf dem Turm gestanden hatten, um auf das brennende London hinabzusehen, schienen für Marius fast ebenso viele Jahre vergangen zu sein wie für ihn Monate. Doch das allein war es nicht, was ihn erschreckte.
Es war die Leere. In den Augen des Dämons, der ihn in seinen Träumen heimsuchte, war ein böses, ein unrechtes Leben, ein verzehrendes Feuer, das nicht sein sollte. In diesen aber war nichts als eine schreckliche, alles verzehrende Leere, die sich wie Säure in seine Seele brannte und einen Schmerz darin weckte, den er sich in all den unzähligen Jahren seines Lebens zuvor nicht einmal hatte vorstellen können.
Damals, in jener schrecklichen Feuernacht in London hatte er nichts als Hass gespürt, später war dann Bitterkeit hinzugekommen, die nach und nach zu Resignation geworden war. Doch der Hass war immer in ihm lebendig geblieben.
Damals hatte er geglaubt, an diesem Hass zerbrechen zu müssen.
Doch das, was er jetzt sah, war noch tausendmal schlimmer, als wäre aus Traum Realität und aus Realität Traum geworden, sodass das, was einst sein Fleisch und Blut gewesen war, nun auf ewig in den Abgründen des Nachtmahrs gefangen war und er einer leeren Hülle gegenübersaß, die atmete und deren Herz schlug, aber in Wahrheit nicht mehr war als eine menschengroße Puppe, die aß, wenn man ihr zu essen gab, trank, wenn man ihr Wasser reichte, und es zuließ, dass man sie wusch, ihr Haar kämmte, ihre Finger-, und Zehennägel schnitt und ihr dann und wann saubere Kleider anzog. Aber war das Leben?
»Wie lange ist er schon so?«
Es war nicht Andrej, der diese Frage stellte, sondern Abu Dun, und es verging eine geraume Weile, bevor er eine Antwort erhielt.
»Seit man ihn hergebracht hat. Seit einem halben Jahr. Fünf Monate, wenn ich es mir recht überlege … vielleicht ein bisschen mehr.«
Die Stimme der ältlichen Schwester, die diese Worte gesprochen hatte, zitterte vor Furcht. Andrej fragte sich, wem diese Furcht wohl gelten mochte: Dem schwarzen Riesen, der mit seiner hünenhaften Gestalt die kleine Kammer beinahe zu sprengen schien, ihm selbst, wusste er doch nur zu gut, dass sein Anblick zurzeit nicht mehr Vertrauen erweckte, oder dem blassen Jüngling mit dem weit bis über die Schultern fallenden glatten weißen Haar.
Doch nicht nur die schreckliche Leere in diesen dunklen Augen machte ihm Angst, sondern viel mehr noch das Wissen, wozu dieser engelsgleich aussehende Junge fähig war.
Es war sein Sohn, sein eigen Fleisch und Blut, und doch wusste er manchmal nicht, ob dieser Knabe mit dem Engelsgesicht überhaupt noch ein Mensch war. Vielleicht hatte er ja ein Ungeheuer gezeugt, und das Schicksal hatte ihn nur zu diesem einen Zweck erschaffen. Was, wenn auch er nicht mehr als ein Spielball der uralten Mächte war, von denen die Menschen glaubten, sie wären Götter, ohne auch nur zu ahnen, welch finstere und zerstörerische Kraft ihnen innewohnte?
Er wollte etwas sagen – irgendetwas, und sei es vollkommen sinnlos, nur um diese drückende Wortlosigkeit zu beenden, aber seine Stimme verweigerte ihm den Dienst.
»Was ist passiert?«, fragte Abu Dun.
Schwester Innozenz (sie hieß wirklich so, was Abu Dun auf dem Weg hierher Anlass zu einigen derben Scherzen – in seiner Muttersprache – gegeben hatte, bis sie die Kammer betraten und ihnen beiden das Lachen verging) maß ihn mit misstrauischem Blick und fragte: »Passiert?«
»Passiert«, wiederholte Abu Dun, in ganz sacht verändertem Ton, der der Barmherzigen Schwester klarmachte, wie wenig ihm ihre Absicht gefiel, Zeit zu gewinnen. Wozu auch immer.
»Etwas muss ihm zugestoßen sein. Als wir den Jungen das letzte Mal gesehen haben, da war er noch nicht in diesem Zustand. War er krank, oder hatte er einen Unfall?«
»Wir haben ihn nach bestem Wissen gepflegt!« Schwester Innozenz funkelte den schwarz gekleideten Hünen so herausfordernd an, als wäre sie es, die ihr Gegenüber um gleich drei Haupteslängen überragte und fünfmal so viel wog, und nicht umgekehrt. »Was willst du damit sagen, Muselmane? Dass wir unseren Pflichten nicht nachkommen? Er bekommt die beste Medizin und das beste Essen, und der Dottore ist der beste Arzt in der ganzen Stadt, wenn nicht im ganzen Land! Und meine Schwestern und ich schließen ihn in jedes unserer Gebete ein! Und
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