Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
jetzt aber zum größten Teil aus Schlamm und halb gefrorenem Morast bestand. Das Aussehen der Häuser passte zum Zustand der Wege. Irgendwann einmal waren sie wohl im typisch südländischen Stil weiß verputzt und mit ordentlichen roten Dachziegeln gedeckt gewesen, aber die Zeit hatte sichtlich ihren Tribut gefordert. Von den meisten Fassaden war die Farbe längst abgeblättert, und zahlreiche Dächer waren mit Holz oder auch Stroh notdürftig geflickt. Und trotzdem wirkte der Anblick nicht schäbig oder gar abstoßend, sondern auf eine angenehme Weise vertraut – und auf seltsame und schwer in Worte zu fassende Art freundlicher als das Labyrinth aus schmutzigen Straßen und nicht minder schmutzigen Kanälen, aus dem sie gerade kamen. Die unerwartet wenigen Menschen, die er sah, waren einfach, aber zweckmäßig gekleidet, statt so farbenfroh (und zum Großteil unpraktisch) wie die meisten Venezianer, denen er bisher begegnet war. Auch hier wurde er neugierig gemustert, wenngleich auch auf eine andere Art. Etwas wie eine fühlbare Gelassenheit hatte die Stelle der allgemeinen Hektik eingenommen, die den Rest der Stadt auszeichnete. Es gefiel ihm.
»Ist es hier immer so ruhig?«, fragte er.
»Nur im Winter«, antwortete Corinna. »In ein paar Wochen geht die Arbeit auf den Feldern wieder los, und im Moment sind auch viele in der Stadt, um sich während des Carnevale eine Arbeit zu suchen, oder auch einfach nur zu feiern. Aber im Sommer könntest du hier keinen Schritt tun, ohne irgendwem auf die Füße zu treten.«
Sie hatten eine Abzweigung erreicht, und Corinna blieb stehen, um sich nachdenklich umzublicken. »Dort entlang«, sagte sie schließlich und deutete nach links. Die Geste wirkte nicht so überzeugt, wie Andrej es sich gewünscht hätte.
»Glaube ich«, fügte sie noch hinzu.
Das hatte Andrej jetzt nicht hören wollen, schluckte aber eine Erwiderung hinunter und bedeutete ihr mit einer jetzt ganz bewusst ungeduldigen Kopfbewegung weiterzugehen. Abu Dun war hier, das spürte er nun ganz deutlich, und ihnen blieb nicht mehr viel Zeit.
Längst machte Andrej sich Vorwürfe, nicht schon am vergangenen Abend mit Abu Dun gesprochen zu haben. Immerhin hatte nicht viel gefehlt, und ihre Angreifer hätten ihn umgebracht – oder ihm ein noch schlimmeres Schicksal bereitet. Und der Nubier war niemand, der rasch vergab.
Als sie noch zweimal abbogen, musste Corinna nichts sagen, um in Andrej den Verdacht zu wecken, dass sie sich ihrer Sache nicht einmal annähernd so sicher war, wie sie ihn, und möglicherweise auch sich selbst, glauben machen wollte. Immer wieder sah sie sich auf eine Art um, die sie für verstohlen halten mochte, und einmal machte sie sogar kehrt und ging ein paar Schritte weit den Weg zurück, den sie gekommen waren.
»Vielleicht sollte ich doch nach dem Weg fragen«, schlug er vor.
Corinna dankte ihm den Vorschlag mit einem giftigen Blick und einer knappen und jetzt ganz eindeutig befehlenden Geste. »Warte hier!«, sagte sie, klopfte an die Tür des nächstbesten Hauses und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Andrej dachte kurz daran, die Gelegenheit zu nutzen und einfach auf eigene Faust weiterzumachen, entschied sich aber dann dagegen. Er traute sich durchaus zu, Baleans Familie und damit Abu Dun auch ohne Hilfe zu finden, aber nicht unbedingt vor ihr, falls sie in diesem Haus die gewünschte Auskunft bekam.
Seine Geduld wurde auf die Probe gestellt. Er hörte Corinnas Stimme und die einer zweiten Frau. Sie sprachen Italienisch, aber zu schnell und zu leise, als dass er sie hätte verstehen können. Allerdings war nicht zu überhören, dass es sich um keine besonders freundschaftliche Unterhaltung handelte. Auch fiel ihm erneut der befehlsgewohnte Ton in Corinnas Stimme auf. Nicht wie der Ton eines Soldaten, der seine Untergebenen zusammenbrüllt, aber doch der eines Menschen, der keinen Widerspruch duldet. Vielleicht wäre es doch ratsam herausfinden, wer dieses Mädchen wirklich war.
Andererseits spielte es auch keine Rolle mehr, dachte er, und ein flüchtiges Gefühl von Melancholie überkam ihn, bevor er es fast erschrocken wieder verscheuchte. Es wurde Zeit, dass sie dieser sonderbaren Stadt den Rücken kehrten, und er würde Corinna nicht wiedersehen. Sie war ein wirklich hübsches Mädchen und er empfand auch etwas für sie … aber nicht genug, um hierzubleiben. Er musste Abu Dun finden, bevor dieser große Tölpel etwas Unbedachtes tat, und dann würde er auf seinen
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