Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
zu sein: Abu Dun.
»Signore?« Die Stimme des Fährmanns riss ihn aus seinen Grübeleien, wofür er im ersten Moment fast dankbar war. Wenngleich auch nur so lange, bis er das gierige Funkeln in dessen Augen gewahrte. »Ich warte gerne auf Euch, aber wenn es lange dauert, muss ich Euch einen Aufschlag berechnen. Wenn ich tatenlos hier herumsitze, entgeht mir eine andere Fahrt.«
»Schon gut, du kannst fahren.« Corinna tauchte zwischen den Bretterbuden auf und wedelte unwillig mit der Hand. »Wir benötigen deine Dienste nicht mehr.«
Der Fährmann sah sich demonstrativ um. »Aber es ist kein anderes Boot da. Wie wollt ihr zurückkommen?«
»Wenn es sein muss, schwimmen wir eben.« Corinna ergriff Andrej kurzerhand am Arm und zerrte ihn hinter sich her. Sie wirkte verstimmt.
»Schwimmen?«, wiederholte Andrej.
»Warum nicht? Ich dachte, das wären genau die Temperaturen, bei denen du am liebsten badest«, witzelte Corinna, wurde aber auch sofort wieder ernst und ging rasch noch ein paar Schritte weiter, bis sie außer Hörweite des Fährmanns waren. Andrej konnte hören, wie er mit einem Klatschen die Ruder ins Wasser tauchte.
»Der Kerl wollte uns übervorteilen«, sagte sie. »So etwas mag ich nicht.«
»Aber –«
»Ich habe sie gefunden«, fuhr Corinna fort, und Andrej vergaß den missmutigen Fährmann augenblicklich. »Die Frau, mit der ich gerade gesprochen habe, kennt den Jungen.«
»Balean?«
Corinna nickte. »Er lebt mit seiner Familie in einem alten Hof, nicht einmal weit von hier. Sie hat ihn heute noch gesehen.«
»Und du weißt, wo das ist?«
»Ich bringe dich hin.«
»Kommt nicht infrage«, sagte Andrej. »Erklär mir den Weg!«
»Sie werden mir nichts tun«, beharrte Corinna. »Wenn sie das wollten, hätten sie es schon gestern Nacht tun können.«
»Ich werde nicht mit dir diskutieren«, sagte Andrej ruhig. »Es ist zu gefährlich. Du kannst mir den Weg beschreiben, aber ich kann mich auch selbst durchfragen, wenn es sein muss.«
»Ganz wie du meinst«, erwiderte Corinna schnippisch. »Aber die Leute hier sind nicht sehr gesprächig, und eigentlich mögen sie keine Fremden. Niemand wird mit dir reden. Ach ja, und da ist noch etwas.«
»Abu Dun ist hier«, vermutete Andrej. Eigentlich war es mehr als eine Vermutung. Jetzt, einmal darauf aufmerksam geworden, spürte er die Nähe eines anderen Unsterblichen. Noch sehr weit entfernt und noch sehr schwach, aber er war da.
»Noch nicht lange, und ganz bestimmt hat ihm niemand den Weg beschrieben«, bestätigte sie. »Aber ja, ich denke, er ist hier. Eine der Frauen hat eine Andeutung gemacht. Und ich konnte spüren, dass sie Angst hatte.« Corinna sah ihn mit dem unschuldigsten Augenaufschlag an, den er jemals gesehen hatte. »Wollen wir uns noch ein bisschen streiten, oder gehen wir weiter und versuchen ein paar Leben zu retten?«
Andrej gab nach. Sie hatte ja recht. In der Zeit, in der sie sich hier wie die Kinder herumzankten, starben vielleicht Menschen. »Also gut«, grollte er. »Aber du tust genau das, was ich sage, hast du das verstanden?«
Corinna nickte.
»Und über das hier reden wir noch«, fügte er hinzu.
Jetzt versuchte Corinna, Zerknirschung zu heucheln, wenn auch mit wenig Erfolg. »Wie Ihr befehlt, Sahib.«
Andrej starrte sie an. »Was … hast du gesagt?«, fragte er stockend.
»Sahib«, wiederholte Corinna. »Nennt dich nicht dein großer schwarzer Freund immer so?«
»Schon, aber er –«
»Ich dachte, das bedeutet so etwas wie Freund.« Corinna blinzelte. »Tut es das nicht?«
»Nicht unbedingt«, antwortete Andrej. Das hatte sie ganz gewiss nicht geglaubt, aber auch darüber würden sie später sprechen. »Wohin?«
Corinna sah ihn zweifelnd an, machte dann aber gehorsam eine Geste in eine Richtung. »Es ist nicht sehr weit, aber wir sollten uns trotzdem beeilen. Dein Freund ist schon eine ganze Weile hier, wenn ich mich nicht täusche.«
Sie eilten los, Corinna auf dem letzten Stück so schnell, dass er Mühe hatte, nicht zurückzufallen. Nachdem sie die Reihe aus baufälligen Schuppen und Bootshäusern hinter sich gebracht hatten, veränderte sich die Umgebung. Es war, als würden sie einen Schritt zurück in die Vergangenheit tun, fünfzig oder auch dreihundert Jahre zurück. Die Gegend hatte nicht mehr die mindeste Ähnlichkeit mit der modernen Stadt, in deren Sichtweite sie sich immer noch befanden. Vor ihnen lag eine schmale, nicht ganz gerade Straße, die früher einmal gepflastert gewesen war,
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