Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
Zunge lag. Scalsis Verhalten irritierte ihn. Der Mann war schockiert und entsetzt über das, was er gerade hatte mit ansehen müssen, aber dennoch reagierte er merkwürdig. Auch jetzt hob er nur die Schultern und wartete offenbar darauf, dass Andrej endlich ging. Aber das konnte er nicht. Nicht jetzt, wo er wusste, was Corinna in der Zelle gefunden hatte. Mit einer Kopfbewegung auf die geschlossene Scheunentür hinter sich fragte er: »War er ein Patient?«
»Ja«, antwortete Scalsi und hob abwehrend die Hände. »Oder vielleicht sollte ich sagen, ein … Schutzbefohlener. Eine weitere Seele, die mir anvertraut wurde und die ich nicht beschützen konnte.«
Andrej fragte sich, ob Scalsi wirklich so empfand oder ob er es vielleicht nur sagte, um ihn zu treffen. Wenn ja, hatte er Erfolg.
»Macht Euch keine Vorwürfe«, fuhr Scalsi fort. »Er war ein schlechter Mensch, immer auf Streit aus und meistens betrunken. Niemand wird Fragen stellen, und niemand wird ihn vermissen.«
»Er hatte keine Familie?«, vergewisserte sich Andrej.
»Das weiß ich nicht. Jedenfalls hat er niemals eine erwähnt, und nie hat jemand nach ihm gefragt. Und selbst wenn, dann ist sie wahrscheinlich froh, dass er nicht zurückkommt.«
»Und wohin bringt Ihr ihn jetzt?«, wollte Andrej wissen.
»Auf die Insel«, erwiderte Scalsi.
Wieder musste sich Andrej beherrschen, um nichts Unhöfliches zu sagen. In einer Stadt, die aus nichts anderem als mehr als einhundert Inseln bestand, war das nicht die Antwort, die er hatte hören wollen. Trotzdem nickte er und sagte, so ruhig er konnte: »Dann werden wir euch helfen. Das ist das Mindeste, was wir tun können.«
»Was?«, fragte Scalsi. Er sah nicht begeistert aus.
»Dafür Sorge zu tragen, dass er ein christliches Begräbnis bekommt«, erwiderte Andrej.
»Aber Ihr –«, begann Scalsi, doch Andrej gab ihm keine Gelegenheit, den Satz zu Ende zu sprechen, sondern eilte durch die aufgebrochene Tür hinaus, um nach Abu Dun zu suchen.
Der Nubier hatte sich bereits ein gutes Stück entfernt und ging jetzt in eher gemächlichem Tempo weiter. Andrej musste zwei- oder dreimal mit zunehmender Lautstärke seinen Namen rufen, bevor der Nubier stehen blieb und sich missmutig zu ihm umdrehte. In unmittelbarer Nähe von Scalsis Turmruine waren keine weiteren Gebäude, so als hielten die Menschen einen instinktiven Abstand zu dem Schrecken ein, der hinter den uralten Mauern lauerte. Doch jetzt, als sie sich den ersten Behausungen näherten, klang ihm die Warnung im Ohr, dass Fremde hier nicht gern gesehen waren. Obwohl niemand in Sichtweite war, meinte Andrej die misstrauischen Blicke, mit denen sie beobachtet und eingeschätzt wurden, fast körperlich spüren zu können. Und zweifellos wurde jedes Wort, das sie hier sprachen, belauscht.
»Verdammt, warte!«, sagte er schwer atmend, als er Abu Dun endlich eingeholt hatte.
»Oh, verzeiht«, sagte Abu Dun böse. »Ich habe ganz vergessen, dass es ja bald Nacht ist. Ich wollte Euch nicht zumuten, allein bei Dunkelheit nach Hause zu gehen, Sahib.« Er neigte demütig den Kopf. »Mein Fehler.«
Andrej ignorierte den höhnischen Ton, sah ihn nur ärgerlich an und zog dann den Stofffetzen aus der Tasche, den Corinna ihm gegeben hatte. Abu Dun betrachtete ihn ungefähr so begeistert, als hielte er eine hässliche Spinne auf der Handfläche und nicht nur ein Stück schwarzes Tuch, wartete sichtlich auf ein Wort der Erklärung und fragte schließlich: »Und?«
»Das lag in der Zelle, in der es den Toten gegeben hat«, antwortete Andrej.
Zu stur, um sich eine Regung anmerken zu lassen, betrachtete Abu Dun das Tuch weiter, streckte schließlich mit allen Anzeichen von Widerwillen die Hand aus und nahm es mit so spitzen Fingern auf, als handle es sich um etwas ganz besonders Unappetitliches. Aber schließlich hatte er wohl selbst genug von seinen eigenen Albernheiten, drehte es ein paarmal hin und her und roch schließlich daran.
»Blut«, sagte er.
»Und nicht wenig«, bestätigte Andrej.
»Es ist nur ein paar Stunden alt«, fügte der Nubier hinzu. Sein Interesse war geweckt, ganz egal, wie sehr er auch immer noch versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen. »Das habt ihr in der Zelle neben der deines Sohnes gefunden?«
»Scalsis Unfall«, sagte Andrej. »Ja.«
»Der gute Doktor ist uns eine Erklärung schuldig«, sagte Abu Dun. Er roch noch einmal an dem Stoff, schloss dann so fest die Hand darum, als versuche er ihn zu zerdrücken und fuhr dann auf dem
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