Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
nicht so freundlich.‹«
J etzt schwieg der Vamp ir. Auch der Junge sagte nichts, bis er schließlich flüsterte: »Ein Vampir-Kind!« Der Vampir sah mit einem Mal auf, als ob er überrascht sei, obwohl sein Körper keinerlei Bewegung machte. Dann sah der Junge, daß sein Tonband fast abgelaufen war, holte eine neue Kassette aus seiner Aktentasche und legte sie ein. Als er den Knopf drückte, blickte er den Vampir an. Dessen Gesicht sah müde und abgespannt aus, die Backenknochen traten stärker hervor, und seine glänzenden grünen Augen schienen ungeheuer groß. Das Interview hatte in der Abenddämmerung begonnen, die an diesem Wintertag in San Francisco früh gekommen war, und jetzt war es fast zehn Uhr morgens. Der Vampir reckte sich, lächelte und fragte ruhig: »Können wir fortfahren?«
»Hat er das mit dem kleinen Mädchen gemacht, um Sie festzuhalten?« fragte der Junge.
»Das ist schwer zu sagen. Ich bin sicher, daß Lestat nicht gern über seine Beweggründe und Überzeugungen nachdachte und sprach, nicht einmal bei sich selber. Er gehörte zu den Leuten, die stets handeln müssen; und man muß ihnen sehr zusetzen, ehe sie den Mund öffnen und einräumen, daß Überlegung und Methode hinter der Art steckt, wie sie leben. So war es an jenem Abend mit Lestat.
Er war dazu gedrängt worden, vor sich selber darzulegen, warum er so lebte, wie er es tat. Und dazu gehörte zweifellos auch, mich festzuhalten. Rückblickend denke ich, er hätte selber gern die Gründe gewußt, weshalb er tötete, gern sein eigenes Leben erforscht. Wenn er sprach, entdeckte er, was er wirklich glaubte. Doch er wollte tatsächlich, daß ich bei ihm bliebe. Mit mir führte er ein Leben, wie er es sich allein nie hätte leisten können. Und ich meinerseits hütete mich, wie ich dir schon sagte, ihm etwas von meinem Hab und Gut zu überschreiben. Das ärgerte ihn maßlos, doch er konnte mich nicht dazu bringen.« Der Vampir lachte. »Wenn man all die anderen Dinge bedenkt, zu denen er mich überredet hat! Wie seltsam.
Er konnte mich verleiten, ein Kind zu töten, doch nicht, mich von meinem Geld zu trennen.« Er schüttelte den Kopf. »Aber«, fuhr er fort, »es war kein Geiz, wirklich nicht. Es war die Furcht vor ihm, die mich knauserig machte.«
»Sie sprechen von ihm, als sei er tot. Lestat war dies und Lestat war das. Ist er denn tot?« fragte der Junge.
»Ich weiß es nicht«, sagte der Vampir. »Es ist möglich. Aber darauf komme ich noch. Wir haben von Claudia gesprochen, nicht wahr? Und ich wollte noch etwas über Lestats Motive an jenem Abend sagen. Er traute niemandem, mußt du wissen; er war wie eine Katze, wie er selber zugab, ein einzelgängerisches Raubtier. Doch an jenem Abend hatte er sich mir anvertraut; er hatte sich in gewissem Grade bloßgestellt, indem er die Wahrheit sagte. Er hatte seinen Spott und seine Herablassung abgelegt, seine ständige Verärgerung für eine Weile vergessen. Und das war für Lestat eine Bloßstellung. Ich glaube, er hat aus Rache Claudia zu einem Vampir gemacht.«
»Rache nicht nur an Ihnen, sondern an der Welt?« deutete der Junge an.
»Ja. Lestats Motive drehten sich stets um Rache.«
»Hat das alles mit dem Vater angefangen? Mit der Schule?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Aber ich möchte weitererzählen.«
»Oh, bitte, ja. Sie müssen weitererzählen. Ich meine, es ist ja erst zehn.« Der Junge zeigte auf seine Uhr.
Der Vampir blickte darauf und lächelte den Jungen an. Dessen Gesicht veränderte sich; es wurde blaß wie von einem großem Schreck. »Hast du noch Angst vor mir?« fragte der Vampir.
Der Junge gab keine Antwort, doch wich er unwillkürlich ein wenig vom Tisch zurück. »Es wäre unverständlich, wenn du keine hättest«, sagte der Vampir. »Aber fürchte dich nicht. Wollen wir fortfahren?«
»Bitte!« Der Junge zeigte auf den Apparat.
»Also«, begann der Vampir, »unser Leben veränderte sich mit Mademoiselle Claudia wesentlich, wie du dir wohl vorstellen kannst. Ihr Leib starb, doch ihre Sinne erwachten, so wie es bei mir gewesen war. Es dauerte indes einige Tage, bis ich merkte, wie sehr mich nach ihr verlangte, wie ich wünschte, mit ihr zusammenzusein und mit ihr zu sprechen. Zuerst dachte ich nur daran, sie vor Lestat zu schützen. Ich bettete sie jeden Morgen in meinen Sarg und ließ sie möglichst nicht aus den Augen, wenn er dabei war. Aber das war es ja, was Lestat gewollt hatte, und er machte
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