Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
vermietet hatte. Dahinter lag ein verborgener Garten, durch eine Mauer gegen die Straße abgeschirmt - eine luxuriösere und vor allem sicherere Behausung als Pointe du Lac. Unsere Diener waren freie Farbige, die uns noch vor der Dämmerung allein ließen; und Lestat kaufte das Allerneueste, was aus Frankreich und Spanien kam: Kristalleuchter und Teppiche, seidene Wandschirme mit aufgemalten Paradiesvögeln, singende Kanarienvögel in goldenen Käfigen, edle griechische Götterstatuen und schön bemalte chinesische Vasen. Ich brauchte diesen Luxus nicht, so wie ich ihn früher nicht benötigt hatte; doch wider Willen bezauberte mich diese neue Flut von Kunst und Schönheit, und ich konnte stundenlang den verschlungenen Mustern der Teppiche nachgehen oder beobachten, wie das Lampenlicht die dunklen Töne eines niederländischen Gemäldes verwandelte.
Auch Claudia fand das alles wundervoll, mit der stillen Ehrfurcht eines unverwöhnten Kindes, und sie staunte, als Lestat einen Künstler beauftragte, an die Wände ihres Zimmers einen Zauberwald zu malen, mit Einhörnern und goldenen Vögeln und Früchte tragenden Bäumen über schimmernden Bächen. Unaufhörlich kamen Schneider, Schuster und Putzmacherinnen in unsere Wohnung, um Claudia nach der neuesten Kindermode auszustatten, so daß sie mit ihren langen Wimpern und ihren wunderschönen blonden Haaren in den prächtig besetzten Häubchen und kleinen Spitzenhandschuhen, den ausgestellten samtenen Mäntelchen und Capes und den weißen Kleidchen mit Puffärmeln und leuchtendblauen Schärpen stets einen entzückenden Anblick von kindlicher Schönheit bot. Lestat und ich spielten mit ihr wie mit einer hübschen Puppe, und auf ihr Bitten tauschte ich mein schäbiges Schwarz gegen Kavalierskleider mit Seidenkrawatten und weichen grauen Samtmänteln mit ebensolchen Handschuhen. Lestat hielt nach wie vor Schwarz für die einem Vampir gemäße Farbe, vielleicht der einzige ästhetische Grundsatz, an dem er festhielt, aber er hatte nichts gegen Eleganz und Extravaganz. Er genoß das großartige Bild, das wir abgaben, wenn wir zu dritt in unserer Loge in der neuen Französischen Oper oder im Theâtre d’Orléans saßen, wohin wir so oft wie möglich gingen. Lestat hatte eine Vorliebe für Shakespeare, was mich verwunderte, während er bei einer Oper oft einschlief und gerade rechtzeitig aufwachte, um eine schöne Dame zu einem mitternächtlichen Souper einzuladen. Dort gebrauchte er alle seine Künste, sie zu verführen und danach flugs in den Himmel oder die Hölle zu befördern, um mit ihrem Diamantring heimzukehren, den er Claudia schenkte. Und ich war die ganze Zeit mit Claudias Erziehung beschäftigt. Ich lehrte sie lesen und schreiben und flüsterte in ihr kleines Muschelohr, daß unser unsterbliches Leben nutzlos wäre, wenn wir nicht überall die Schönheit sähen, die Schöpfungen der Sterblichen um uns. Unermüdlich versuchte ich ihren stillen Blick zu ergründen, wenn sie die Bücher nahm, die ich ihr gab, die Verse flüsterte, die ich sie lehrte, und mit leichtem, doch zuversichtlichem Anschlag ihre eigenen Melodien auf dem Klavier klimperte. Stundenlang konnte sie die Bilder in einem Buch betrachten und mir zuhören, wenn ich ihr vorlas, und sie saß dabei so regungslos, daß ich es kaum ertragen konnte, das Buch, in dem ich las, niederlegte und sie anstarrte; dann kam Leben in sie, wie in eine Puppe, die sich bewegt, und sie bat mich mit der sanftesten Stimme weiterzulesen.
Und dann begaben sich seltsame Dinge; denn obwohl sie wenig sprach und noch immer das pausbäckige Kind mit den rosigen Fingerchen war, konnte ich sie zuweilen in meinem Lehnstuhl finden und ein Buch von Aristoteles oder Boethius lesen sehen oder einen neuen Roman, der gerade über den Atlantik gekommen war.
Oder sie suchte sich auf dem Klavier eine Melodie von Mozart zusammen, die wir am Abend zuvor gehört hatten, mit untrüglichem Ohr und einer Aufmerksamkeit, daß sie mir wie ein Geist erschien, wenn sie stundenlang dasaß und die Musik erforschte - erst die Melodie, dann den Baß und schließlich beides zusammen.
Claudia war ein Geheimnis; es war nicht möglich herauszubekommen, was sie wußte oder nicht wußte. Und zu sehen, wie sie tötete, konnte einen frösteln machen. Sie saß allein auf einem dunklen Platz und wartete auf einen hilfsbereiten Herrn oder eine freundliche Dame, mit ausdrucksloseren Augen, als ich sie je bei Lestat gesehen hatte, und wie ein
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