Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Titel: Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
furchterstarrtes Kind flüsterte sie ihre Bitte um Hilfe; und wenn der Herr oder die Dame sie auf die Arme nahm und davontrug, legte sie die Armchen fest um ihren Hals, die Zunge zwischen den Zähnen und unverhohlenen Hunger im Blick. In den ersten vier Jahren fanden ihre Opfer schnell den Tod; dann lernte Claudia, mit ihnen zu spielen, sie zu einem Puppenladen zu führen oder sich in ein Cafe einladen zu lassen, wo man ihr heißen Tee oder eine Tasse Schokolade bestellte, damit sich ihre blassen Wangen röteten; und sie schob die Tasse zurück und wartete, wartete, als weide sie sich schweigend an der verhängnisvollen Güte ihrer Opfer.
    Aber nachdem es geschehen, war sie wieder meine Gefährtin, meine Schülerin, und verbrachte lange Stunden mit mir, verschlang rascher und rascher das Wissen, das ich ihr vermittelte, und ein stilles Einverständnis verband uns, von dem Lestat ausgeschlossen war. In der Dämmerung legte sie sich zu mir, ihr Herz schlug an meinem, und viele Male, wenn ich sie anschaute - wenn sie am Klavier saß und nicht wußte, daß ich im Zimmer war -, dachte ich an das seltsame Erlebnis, das ich mit ihr und niemand anderem teilte, daß ich sie getötet, ihr das Leben genommen und all ihr Lebensblut getrunken hatte, in jener schicksalhaften Umarmung, die ich seither an so viele verschwendet, welche nun in der Erde modern. Doch sie lebte, lebte, um mir die Arme um den Hals zu legen und ihren Knospenmund auf meine Lippen zu drücken und ihr leuchtendes Auge meinem Auge zu nahem, bis sich unsere Wimpern berührten und wir uns lachend im Zimmer drehten wie im ausgelassensten Walzer. Vater und Tochter - Liebhaber und Geliebte. Zum Glück neidete es uns Lestat nicht; er lächelte nur darüber und wartete, bis sie zu ihm kam.
    Dann nahm er sie mit auf die Straße, und sie winkten mir von unten zu, ehe sie sich gemeinsam auf den Weg machten, gemeinsam zu jagen, zu verführen, zu töten. So verging Jahr um Jahr. Doch es dauerte eine geraume Zeit, bis mir an Claudia etwas auffiel. Ich schließe aus deinem Gesichtsausdruck, daß du es schon geraten hast, und du fragst dich sicherlich, wieso es mir entgangen war. Darauf kann ich nur sagen, daß die Zeit für mich nicht dasselbe ist - und für uns nicht dasselbe war - wie für dich. Für uns verband sich nicht der Tag mit dem nächsten zu einer festen und uns mit sich ziehenden Kette, sondern der Mond schien über Wellen, die in ewigem Gleichmaß dahinplätscherten.« »Ihr Körper!« sagte der Junge. »Sie wurde nie erwachsen?« Der Vampir nickte. »Sie sollte für ewige Zeiten das Teufelskind bleiben. So wie ich der junge Mann geblieben bin, der ich war, als ich starb. Lestat ging es ebenso. Doch Claudias Seele? Es war die Seele eines Vampirs. Und ich bemühte mich zu erkennen, wie sie sich entwickelte. Sie sprach mehr als früher, blieb jedoch das nachdenkliche Mädchen, das sie gewesen, und konnte mir lange geduldig zuhören, ohne mich zu unterbrechen. Doch mehr und mehr beherrschten zwei erwachsene, wissende Augen das Puppengesicht; und die Unschuld schien irgendwie verloren, während sie ihr Spielzeug vernachlässigte. Etwas erschreckend Sinnliches lag in der Art, wie sie in einem winzigen Nachtgewand mit Spitzen und Perlenstickerei sich auf der Ottomane ausstreckte; sie wurde zu einer unheimlichen und machtvollen Verführerin, die Stimme hell und zart wie immer, doch mit einer Resonanz, die einer Frau anzugehören schien, einer Schärfe, die etwas Beängstigendes hatte. Nachdem sie tagelang ruhig wie gewöhnlich gewesen war, konnte sie plötzlich über Lestats Kriegsvoraussagen spotten oder sagen, während sie Blut aus einem Kristallglas trank, es seien keine Bücher im Haus, wir sollten mehr beschaffen, und wenn wir sie stehlen müßten, und dann berichtete sie kühl von einer Bibliothek, von der sie gehört habe, in einem palastartigen Haus im Faubourg Sainte-Marie, bei einer Dame, die Bücher sammelte wie kostbare Steine oder seltene Schmetterlinge. Sie fragte mich, ob ich sie in das Schlafzimmer der Dame führen würde.
    In solchen Augenblicken erschrak ich vor ihren unberechenbaren Launen. Aber dann setzte sie sich wieder auf meinen Schoß, fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, legte den Kopf an meine Brust und flüsterte mir zu, ich würde nie erwachsen werden wie sie, wenn ich nicht wüßte, daß Töten wichtiger sei als alles andere, wichtiger als Bücher und Musik. ›Immer diese Musik…‹, flüsterte

Weitere Kostenlose Bücher