Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
kleine Anspielungen, daß er ihr ein Leid antun könne.
»Ein verhungerndes Kind ist ein schrecklicher Anblick, sagte er zu mir, ›und ein verhungernder Vampir ein noch viel schlimmerer. Man wird ihre Schreie in Paris hören‹, sagte er. Aber das war nur darauf gemünzt, mich festzuhalten. Wenn ich schon davor zurückschreckte, allein zu fliehen, würde ich erst recht nicht daran denken, es mit Claudia zu wagen. Sie war ein Kind und brauchte Schutz und Pflege.
Und es machte Vergnügen, sie zu betreuen. Sie vergaß die fünf Jahre ihres sterblichen Lebens sofort, wie es schien, denn sie war merkwürdig ruhig. Manchmal fürchtete ich sogar, sie habe den Verstand verloren, war besorgt, daß die Krankheit in ihrem sterblichen Leben und der große Schock, als sie Vampir wurde, sie ihrer Vernunft beraubt haben könnten; aber meine Befürchtung war unbegründet. Sie war einfach anders als Lestat und ich, in einem solchen Maße, daß ich es nicht begreifen konnte; denn sie war zwar noch ein Kind, doch zugleich leidenschaftlich im Töten, und sie trachtete nach Blut mit der ganzen Hemmungslosigkeit eines Kindes. Und obwohl Lestat mir beständig drohte, er könne ihr etwas antun, drohte er ihr nicht, sondern behandelte sie liebevoll, stolz auf ihre Anmut und begierig, sie zu lehren, daß wir töten müßten, um zu leben, und daß wir selber unsterblich seien.
Noch immer wütete die Pest in der Stadt, und Lestat führte Claudia auf die stinkenden Friedhöfe, wo die Opfer der Pest und des Gelbfiebers zu Haufen lagen, während Tag und Nacht unaufhörlich das Geräusch der Schaufeln erklang. ›Dies ist der Tod‹, erklärte er ihr und zeigte auf den verfallenden Leib einer Frau, ›den wir nicht erleiden. Unsere Körper bleiben immer so, wie sie sind, frisch und lebendig; doch wir dürfen nicht davor zurückschrecken, Tod zu bringen, denn nur dadurch können wir leben.‹ Und Claudia hörte es mit glänzenden, unergründlichen Augen.
Wenn sie dies auch in ihren frühen Jahren noch nicht verstand, so kannte sie keinerlei Furcht. Stumm und anmutig spielte sie mit ihren Puppen, zog sie an und aus, und stumm und anmutig tötete sie. Und ich, Lestats Lehre folgend, suchte mir nunmehr Menschen in größerer Zahl. Aber es war nicht das Töten allein, das die Pein in mir linderte, die in den dunklen, stillen Nächten von Pointe du Lac nicht hatte von mir weichen wollen, als ich allein gewesen war, nur in der Gesellschaft Lestats und des alten Mannes; es waren die vielen Menschen, von denen es überall wimmelte: in Straßen, die sich nie leerten, in Lokalen, die Tag und Nacht geöffnet hatten, auf Bällen, die bis zum Morgen dauerten und bei denen Musik und Gelächter aus den Fenstern ertönten. Stets waren Menschen um mich, meine pulsierenden Opfer, die ich zwar nicht mit der großen Liebe sah, die ich für Babette und meine Schwester empfunden hatte, doch mit einem neuen Gefühl, das aus Entrücktheit und Verlangen seltsam gemischt war. Und ich tötete sie, wenn ich mit dem leichten Schritt und den scharfen Augen des Vampirs durch diese strotzende und brodelnde Stadt ging, wo meine Opfer mich umringten und verführten, mich zu ihren Abendtischen, in ihre Wagen, in ihre Bordelle lockten. Ich zögerte nicht lange, nur einen kurzen Augenblick, um zu erkennen, was ich brauchte, getröstet von dem Gedanken, daß mir die Stadt eine nicht endende Kavalkade von prächtigen Fremden bot.
Denn so war es: Ich nährte mich von Fremden. Ich ging nur so dicht heran, daß ich die atmende Schönheit, den einmaligen Ausdruck sehen oder die neue und erregte Stimme hören konnte, und dann tötete ich rasch, bevor die Gefühle des Widerstandes in mir erwachen konnten, die Angst, die Sorge.
Claudia und Lestat mochten jagen und verführen und lange in der Gesellschaft des verdammten Opfers verweilen und die köstliche Komik seiner unbewußten Freundschaft mit dem Tode genießen, von dem er nichts ahnte. Aber ich konnte es immer noch nicht ertragen. Und so war für mich die unübersehbare Menschenmenge eine Gnade, ein Wald, in dem ich mich verlor, außerstande, an mich zu halten, zu schnell für einen Gedanken oder eine schmerzliche Regung; und immer wieder folgte ich mehr der Einladung des Todes, als daß ich sie selbst ergehen ließ.
Wir wohnten jetzt in einem meiner neuen spanischen Stadthäuser in der Rue Royale, in einer geräumigen Wohnung im ersten Stock, über einem Laden, den ich an einen Schneider
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