Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
merkte ich: Über den Hof aus der unbenutzten, verschlossenen Küche kam ein Geruch, der sich mit dem Duft des Geißblatts bedrückend mischte - Leichengeruch. Ich hörte Lestat zurückkommen, als ich mich dem kleinen Ziegelhaus mit den zerfallenen Fensterläden näherte. Hier war nie gekocht, nie etwas getan worden, und das Haus lag da wie ein Gruftgewölbe unter dem wuchernden Geißblatt. Die Läden lockerten sich mühelos, denn die Nägel und Haken waren längst verrostet, und ich hörte Lestat nach Luft ringen, als wir in die faulige Dunkelheit traten. Da lagen sie auf dem Steinboden, Mutter und Tochter zusammen; der Arm der Mutter um die Tochter gelegt, und deren Kopf an die Brust der Mutter geschmiegt - beide von Fliegen bedeckt. Ein großer Schwarm stieg auf, als die Läden herabfielen, und ich scheuchte sie angeekelt von mir. Ameisen krochen ungestört über die Lider und Lippen der beiden Toten, und im Mondlicht sah ich zahllose silbrige Schneckenspuren. »Der Teufel soll sie holen!‹ rief Lestat aus, und ich packte ihn fest am Arm und bot meine ganze Kraft gegen ihn auf. ›Was willst du mit ihr machen?‹ fragte ich. ›Was kannst du überhaupt machen? Sie ist kein Kind mehr, das tut, was wir ihm sagen, nur weil wir es sagen. Wir müssen sie unterweisen.‹
›Sie weiß es‹, sagte er. ›Sie weiß seit Jahren, was sie zu tun hat. Was sie wagen kann und was sie unterlassen muß. Ich will nicht, daß sie so etwas ohne meine Erlaubnis tut. Ich werde es nicht dulden.‹
›Bist du unser aller Meister?‹ erwiderte ich. ›Du hast es sie nicht gelehrt. Soll sie es sich aus meiner stillen Unterwürfigkeit zu eigen machen? Ich glaube nicht. Sie betrachtet sich jetzt als uns ebenbürtig und uns beide als Gleichgestellte. Ich sage dir, wir müssen vernünftig mit ihr sprechen und ihr beibringen, das Unsrige zu respektieren. Wie jeder von uns es respektieren sollte.‹
Er ging davon, offenbar mit dem beschäftigt, was ich gesagt hatte, obwohl er es nie zugegeben hätte. Und dann nahm er seine Rache an der Stadt. Doch als er nach Hause kam, müde und satt, war Claudia noch nicht zurück. Er legte sich aufs Sofa und streckte die Beine der Länge nach aus. ›Hast du sie verbrannt?‹ fragte er.
›Sie sind weg‹, erwiderte ich kurz. Nicht einmal zu mir selber hätte ich sagen mögen, daß ich die irdischen Reste der beiden in dem alten unbenutzten Küchenherd verbrannt hatte. ›Aber wir haben es noch mit dem Vater zu tun und dem Bruder, sagte ich. Ich fürchtete Lestats Jähzorn und zerbrach mir den Kopf, wie wir am schnellsten aus der Sache herauskämen. Doch dann sagte er, Vater und Bruder seien nicht mehr. Der Tod sei zum Abendessen in ihr Häuschen gekommen und habe das Tischgebet gesprochen. ›Wein‹, flüsterte er und fuhr sich mit dem Finger über die Lippen. ›Beide hatten zuviel Wein getrunken. Und ich ertappte mich dabei, wie ich mit dem Stock auf den Zaunstäben Musik machen wollte‹, lachte er. ›Aber ich mag die Trunkenheit nicht. Magst du sie?‹ Und als er mich ansah, mußte ich lächeln, denn der Wein hatte seine Wirkung getan und ihn angeheitert, und in diesem Augenblick, als sein Gesicht wann und gelöst aussah, sagte ich zu ihm: ›Ich höre Claudias Schritte auf der Treppe. Sei nett zu ihr. Es ist nun einmal geschehen.‹
Sie kam herein, die Haubenbänder aufgelöst und die kleinen Stiefel beschmutzt. Ich beobachtete beide aufmerksam. Lestat mit seinem spöttischen Lächeln auf den Lippen, und sie, die ihn nicht beachtete, als wäre er gar nicht da. Sie trug einen Strauß weißer Chrysanthemen in den Armen, und mit den großen Blumen sah sie noch mehr wie ein kleines Kind aus. Ihre Haube lockerte sich, blieb eine Sekunde auf ihrer Schulter liegen und fiel dann auf den Teppich. Durch das goldene Haar sah ich die schmalen Blütenblätter der Chrysanthemen. ›Morgen ist Allerheiligen^ sagte sie. ›Weißt du das?‹
›Ja‹, sagte ich. An diesem Tag gehen in New Orleans alle Gläubigen auf die Friedhöfe, um die Gräber ihrer Lieben zu pflegen. Sie tünchen die Wände der Grabgewölbe, säubern die Inschriften auf den Marmortafeln und legen Blumen auf die Gräber. Auf dem Saint-Louis-Friedhof nahe unserem Hause, wo alle großen Familien von Louisiana bestattet werden und auch mein Bruder lag, standen sogar kleine eiserne Bänkchen vor den Gräbern, und dort pflegten die Familien Besuche von Nachbarn und Freunden zu empfangen, die zu dem gleichen Zweck auf den Friedhof gekommen waren.
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