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Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Titel: Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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und uns mit dem Gepäck absetzen. Das Dorf konnten wir vor uns sehen. Mir war mehr daran gelegen als Emily, doch sie ließ mich gewähren und blieb auf den Koffern zurück, während ich allein den Hügel hinaufstieg. Sie haben den Friedhof nicht gesehen, als Sie herkamen? Natürlich nicht. Ihre Kutsche hat Sie ja sicher und direkt hergebracht. Obwohl, wenn Sie weitergefahren wären, einerlei wie erschöpft Ihre Pferde waren…‹ Er hielt inne.
    ›Was für eine Gefahr…?‹ fragte ich.
    ›Ach was… Gefahr! Barbaren!‹ murmelte er. Er warf einen Blick auf die Tür und nahm noch einen Schluck aus der Flasche. Dann fuhr er fort: ›Nun, es war keine Prozession, das sah ich bald. Die Leute sprachen nicht mit mir, als ich näher trat - Sie wissen ja inzwischen, wie sie sind -, aber sie schienen auch nichts gegen meine Anwesenheit zu haben. Vielleicht war ich einfach Luft für sie. Sie werden mir nicht glauben, wenn ich Ihnen erzähle, was ich gesehen habe, doch Sie müssen mir glauben; denn wenn Sie es nicht tun, bin ich verrückt, soviel weiß ich.‹
    ›Ich werde Ihnen glauben‹, sagte ich. ›Sprechen Sie weiter.‹
    ›Der Friedhof war voller neuer Gräber, einige schon mit Holzkreuzen versehen, andere nur Erdhügel mit noch frischen Blumen; einige Bauern hielten Blumen in den Händen, als wollten sie die Gräber schmücken; doch alle standen stockstill, die Augen auf zwei Burschen gerichtet, die ein Pferd am Zügel führten - und was für ein Pferd! Es stampfte und scheute und schlug aus, ein prachtvolles Tier, ein schneeweißer Hengst. Plötzlich - ich weiß nicht, wie sie sich darauf verständigt hatten, denn keiner von ihnen sagte auch nur ein einziges Wort - versetzte einer der Burschen dem Pferd einen Schlag mit dem Spatenstiel und ließ es los; es galoppierte sofort davon, und ich dachte, wir haben es zum letzten Mal gesehen. Doch das war ein Irrtum. In einer Minute trabte es langsamer, machte zwischen den alten Gräbern kehrt und kam zu den neuen zurück. Und die Leute standen da und sahen zu, ohne einen Ton von sich zu geben und ohne den Versuch zu machen, das Tier zu halten. Und es trottete heran und blieb plötzlich auf einem der neuen Gräber stehen.‹
    Der Engländer wischte sich die Augen, doch seine Tränen waren fast versiegt. Er schien sich von seiner Geschichte fortreißen zu lassen, und ich war ebenso fasziniert.
    Und er fuhr fort: ›Das Pferd blieb also stehen. Und plötzlich stieg ein Schrei aus der Menge - nein, kein Schrei, sondern wie wenn alle seufzten und stöhnten, und dann war es wieder ruhig. Das Tier stand immer noch da und warf den Kopf hin und her, und einer der Burschen, der es geführt hatte, sprang nach vom und rief den anderen etwas zu, und eine Frau schrie laut und warf sich auf das Grab, fast unter die Hufe des Pferdes. Ich war sehr nahe herangetreten und konnte die Schrift auf dem Kreuz lesen; es war eine junge Frau gewesen, erst vor einem halben Jahr gestorben, und nun lag dieses unglückliche Weib, vielleicht ihre Mutter, auf den Knien im Staub, legte die Arme um das Kreuz, als wolle sie es aus der Erde reißen; und zwei Männer hoben sie auf und führten sie beiseite.
    Ich wollte mich abwenden, doch ich konnte nicht, nicht bevor ich sehen würde, was das zu bedeuten hatte. Ich wußte Emily in Sicherheit, und keiner nahm von uns die geringste Notiz. Es kamen andere Männer mit Schaufeln und Spaten und begannen das Grab auszuheben; einer stieg in die Grube, und alle waren so still, man konnte jedes Geräusch hören, die Spatenstiche und wie die Erde auf einen Haufen geworfen wurde. Ich kann es gar nicht richtig beschreiben. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, und alle Umstehenden hielten einander fest, und selbst die bemitleidenswerte Frau…‹ Dann hielt er inne und sah Emily an. Ich saß da und wartete. Ich konnte den Whisky gluckern hören, als er die Flasche wieder ansetzte, und war froh, daß er genügend davon hatte, um seine Qual zu lindem. ›Es hätte ebensogut Mittemacht auf diesem Friedhof sein können‹, sagte er schleppend und sah mich an. ›So ein Gefühl hatte ich. Und dann konnte ich diesen Burschen in der Grube hören. Er brach den Sarg mit einem Spaten auf! Ich hörte es krachen und sah, wie er die zerbrochenen Bretter hinaufwarf. Dann stieß er einen furchtbaren Schrei aus; die anderen kamen heran und drängten sich zu dem Grab, wogten zurück, und einige schienen heraus zu wollen, und das arme Weib versuchte, sich von den Männern, die

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