Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
erzählt? Was sind JENE, DIE BEWAHRT WERDEN MÜSSEN?«
Sie wußten es also auch nicht. Wenn du stark genug bist, daß dir niemand dieses Wissen gegen deinen Willen entreißen kann.
Der Meister war weise gewesen.
»Was bedeutet das? Wo sind sie? Wir müssen die Antwort haben.«
»Ich schwöre, ich habe sie auch nicht. Ich schwöre bei meiner Angst, was alles ist, das ich im Moment habe, daß ich es nicht weiß!«
Nacheinander erschienen die weißen Gesichter über ihm. Lippen setzten ihm zu, grobe, liebliche Küsse, Hände schlugen ihn, und von ihren Handgelenken tropfte Blut. Sie wollten die Wahrheit mit Blut herauslocken. Aber was sollte das? Das Blut war nichts als Blut.
»Du bist jetzt das Kind des Teufels.«
»ja.«
»Weine nicht um deinen Meister Marius. Marius ist in der Hölle, wo er hingehört, jetzt trinke das heilende Blut und tanze mit denen deiner Zunft zum Ruhme Satans! Und wahre Unsterblichkeit wird dein Lohn sein!«
»ja« - das Blut verbrannte ihm die Zunge, als er den Kopf hob; das Blut füllte ihn mit qualvoller Langsamkeit. »O bitte.«
Lateinische Sätze schwirrten um ihn und leises Trommelschlagen. Sie waren zufrieden. Sie wußten, daß er die Wahrheit gesagt hatte. Sie würden ihn nicht töten, und alle weiteren Überlegungen verblaßten in Ekstase. Der Schmerz auf seinen Händen, in seinem Gesicht hatte sich in Ekstase aufgelöst.
»Erhebe dich und reihe dich ein unter die Kinder der Finsternis.«
»ja.« Weiße Hände griffen seine Hände. Homer und Lauten kreischten über den Trommelwirbeln, Harfenklänge mischten sich in eine hypnotische Klimpermelodie, als sich der Kreis in Bewegung setzte. Schwarz verhüllte Gestalten; Gewänder flatterten auf, als sie ihre Knie hoben und ihre Rücken nach hinten beugten.
Und sie wirbelten herum, sprangen hoch, kamen wieder herab, drehten sich im Kreis, und ein summender Gesang brach immer lauter von ihren geschlossenen Lippen.
Immer schneller fegten sie dahin. Das Summen war Ausdruck tiefer Melancholie, schien eine Art Sprechen zu sein, ein Echo ihrer Gedanken.
Er fiel in das Gesumm ein, drehte sich um die eigene Achse, und ihm wurde ganz schwindlig, und er sprang hoch in die Luft. Hände fingen ihn auf, Lippen küßten ihn, und er wirbelte durch die Gegend, angetrieben von den anderen, und jemand rief etwas auf lateinisch, ein anderer antwortete, und wieder ein anderer rief noch lauter, und wieder antwortete jemand.
Er flog, war nicht mehr an die Erde gekettet oder an seinen schrecklichen Schmerz über den Tod seines Meisters und den Tod der Gemälde und den Tod der Sterblichen, die er liebte. Der Wind strich an ihm vorbei, und die Hitze sengte ihm ins Gesicht und in die Augen. Aber der Gesang war so schön, daß es nichts ausmachte, daß er den Text nicht konnte, daß er nicht zu Satan beten konnte, nicht wußte, wie man glaubte oder betete. Niemand merkte, daß er das nicht wußte, und sie waren alle in dem Chorgesang vereint, und sie schrien und wehklagten und drehten sich im Kreis und sprangen hoch, und dann wiegten sie sich hin und her und warfen die Köpfe zurück, als das Feuer sie blendete und an ihnen emporzüngelte, und jemand rief: »Ja, ja !«
Und die Musik brauste auf. Ein barbarischer Rhythmus brach von den Trommeln und Tamburinen los, umtoste ihn, und die Stimmen fielen mit einerunheimlich galoppierenden Melodie ein. Die Vampire rissen ihre Arme hoch, heulten auf, Gestalten surrten in wilden Verkrümmungen an ihm vorbei, Rücken bogen sich, Füße stampften. Der Jubel der Kobolde in der Hölle. Entsetzen durchfuhr ihn, und als die Hände ihn packten und ihn umherschwangen, stampfte und kreiste und tanzte und kreischte er wie die anderen.
Und noch ehe der Morgen dämmerte, war er halb wahnsinnig und war von einem Dutzend Brüder umgeben, die ihn liebkosten und besänftigten, um ihn dann die Treppe hinunterzuführen, die sich ins Innere der Erde geöffnet hatte.
In den folgenden Monaten träumte Armand, sein Meister sei nicht in den Flammen umgekommen.
Er träumte, sein Meister sei wie ein lodernder Komet vom Dach in die rettenden Gewässer gefallen. Und sein Meister lebe in den Bergen Norditaliens weiter. Sein Meister riefe ihn herbei. Sein Meister sei im Kloster JENER, DIE BEWAHRT WERDEN MÜSSEN.
Manchmal war der Meister in seinen Träumen so mächtig und strahlend wie je: von Schönheit umflort. In anderen Träumen wiederum war er zu einem Häufchen atmender Schlacke heruntergebrannt, die Augen groß und gelb und nur
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