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Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis

Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis

Titel: Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Dotterfirnis auf die Bildtafeln auftrug, und ihn mitnahmen auf das Gerüst, während sie vorsichtig an den Rändern der Sonne und der Wolken eines Monumentalgemäldes arbeiteten, und ihm die großartigen Gesichter und Hände und Engelflügel zeigten, deren Gestaltung dem Meister allein vorbehalten war.
    Und trunken war er, als er mit ihnen an der langen Tafel saß und sich an Speisen labte, die er nie zuvor gekostet hatte, und an dem Wein, der nie knapp wurde.
    Und schließlich schlief er ein, um in der ersten Abenddämmerung zu erwachen, wenn der Meister neben dem riesigen Bett stand, in seinem roten Samt majestätisch schön wie ein Phantasiegebilde, mit seinem vollen, weißen Haar, das im Lampenlicht glänzte, und seinen glückstrahlenden, kobaltblauen Augen. Der tödliche Kuß.
    »Ah, ja, nie wieder von dir getrennt, ja… keine Angst.«
    »Bald, mein Liebster, bald werden wir wirklich vereint sein.«
    Fackeln erleuchteten das ganze Haus. Der Meister oben auf dem Gerüst, Palette und Pinsel in Händen: »Bleib da stehen, im Licht, bewege dich nicht.« Dann blieb er stundenlang in derselben Haltung erstarrt, um sich schließlich, kurz vor der Morgendämmerung, im Gesicht des Engels wiederzuerkennen, während der Meister lächelnd den endlosen Korridor entlangschritt…
    »Nein, Meister, verlasse mich nicht, laß mich bei dir bleiben, geh nicht weg… «
    Ein neuer Tag und Geld in seinen Taschen, echtes Gold, und die erhabene Pracht Venedigs mit seinen dunkelgrünen Wasserstraßen, die die Paläste umfriedeten, und die anderen Lehrlinge, die Arm in Arm mit ihm durch die Stadt streiften, und die frische Luft und der blaue Himmel über dem Markusplatz, wie etwas, wovon er nur in seiner Kindheit geträumt hatte, und abends wieder der Palazzo, und der Meister kommt, der Meister über das kleinere Bild gebeugt, immer schneller arbeitend, während die Lehrlinge halb entsetzt, halb fasziniert zusehen, und der Meister blickt auf und gewahrt ihn und legt den Pinsel beiseite und verläßt mit ihm das gewaltige Atelier, während die anderen bis Mittemacht weiterarbeiten, und dann ist er im Schlafgemach, sein Gesicht in den Händen des Meisters… und dieses Geheimnis… und sprich mit niemandem darüber… und - der Kuß…
    Zwei Jahre? Drei Jahre? Worte vermögen nicht, den Glanz dieser Tage wiederauferstehen zu lassen - die Kriegsflotten, die vom Hafen aus in See stachen, die Passions- und Mirakelspiele, die in den Kirchen und auf der Piazza aufgeführt wurden, die prächtigen Mosaiken, die sich über die Mauern von San Marco und San Zanipolo und den Palazzo Ducale ergossen, und die Maler, die man auf den Straßen sah, Giambono, Uccello, die Vivarinis und die Bellinis; und die endlosen Festtage und Prozessionen, und immer in den frühen Morgenstunden in den weiten, fackelerleuchteten Palasträumen allein mit dem Meister, wenn die anderen sicher eingesperrt schliefen. Der Meister wie besessen an einer Leinwand arbeitend, als würde er das Gemälde eher freilegen, als es erschaffen - Sonne und Himmel und Meer unter dem Baldachin der Engelsflügel ausgebreitet.
    Und diese fürchterlichen, unvermeidlichen Augenblicke, wenn sich der Meister aufheulend erhob, die Farbtöpfe in die Gegend warf und nach seinen Augen griff, als wollte er sie sich aus dem Kopfe reißen.
    »Warum kann ich nicht sehen? Warum kann ich nicht besser als die Sterblichen sehen?«
    Sich fest an den Meister schmiegen. Auf die Wonne des Kusses warten. Dunkles Geheimnis, stillschweigendes Geheimnis. Der Meister zieht sich kurz vor Anbruch des Morgens zurück.
    »Laß mich mit dir gehen, Meister.«
    »Bald, mein Herzblatt, mein Liebster, mein Kleiner, wenn du groß und stark genug bist, wenn du ohne Makel bist. Geh jetzt und genieße die Freuden, die dich erwarten, gib dich einer Frau hin, gib dich auch einem Mann hin. Vergiß die Grausamkeiten, die du in dem Bordell erleiden mußtest, und koste diese Dinge aus, solange noch Zeit ist.«
    Und kaum eine Nacht verging, ohne daß kurz vor Sonnenaufgang die Gestalt des Meisters zurückgekommen wäre, um sich über ihn zu beugen und ihm jene Umarmung zu schenken, die ihn über den Tag rettete, bis zum tödlichen Kuß wieder in der Abendstunde.
    Er lernte lesen und schreiben. Er trug die fertigen Gemälde zu ihren Bestimmungsorten, den Kirchen und Palastkapellen, und kassierte das Geld, und mit den Händlern feilschte er um Pigmente und Öle. Er schalt die Dienstboten aus, wenn die Betten nicht gemacht und die

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