Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
und hatte seinen Blick auf mich geheftet. Ein junger, blonder Europäer in arabischer Kleidung. Sah nicht übel aus. Und da lag also sein Miteuropäer im Morgenlicht auf dem Kachelboden eines verlassenen Hauses.
Ich blieb liegen und starrte ihn an, als er in den Garten ging. Das Licht des Himmels brannte mir in den Augen, versengte langsam die zarte Haut der Augenränder. Mit seinem sauberen Gewand und Kopfschmuck sah er wie ein Gespenst in einem weißen Leintuch aus.
Ich wußte, daß ich die Beine unter die Arme nehmen mußte. Ich mußte sofort auf und davon, um mich vor der aufgehenden Sonne zu verkriechen. Zu spät, um noch die Gruft unter dem Fußboden zu erreichen. Dieser Sterbliche war in meiner Höhle. Es blieb nicht einmal Zeit, ihn zu töten und ihn auf diese Weise loszuwerden, armer, sterblicher Unglücksrabe.
Dennoch rührte ich mich nicht. Und er kam näher, und der ganze Himmel hinter ihm flackerte auf, so daß seine Gestalt einem Scherenschnitt glich.
»Monsieur!« Das fürsorgliche Flüstern, wie die Frau in Notre Dame vor vielen, vielen Jahren, die mir zu helfen versucht hatte, ehe ich sie und ihr unschuldiges Kind zu Opfern erkor. »Monsieur, was ist los? Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Sonnengebräuntes Gesicht unter den Falten des weißen Kopfschmucks, goldschimmernde Brauen, die Augen grau, wie die meinen auch.
Ich rappelte mich hoch, aber ganz mechanisch. Meine Lippen gaben die Zähne frei. Ein Knurren entwand sich meiner Kehle, und er blickte erschrocken drein.
»Sieh mall« zischte ich, und die Fangzähne senkten sich auf meine Unterlippe. »Siehst du das?«
Ich stürzte mich auf ihn, packte sein Handgelenk und drückte seine offene Hand an mein Gesicht.
»Du hast mich wohl für einen Menschen gehalten?« rief ich. Und dann hob ich ihn hoch, ließ ihn strampeln und treten. »Du hast mich wohl für deinen Bruder gehalten?« brüllte ich. Und krächzend öffnete er seinen Mund, und dann fing er zu schreien an. Und ich schleuderte ihn durch die Luft über den Garten hinaus, bis er wirbelnd hinter den Dächern verschwand.
Der Himmel blendete mich. Ich rannte durch das Gartentor auf die Gasse. Ich rannte unter kleinen Bogengängen entlang und durch seltsame Straßen. Ich riß Gatter und Tore nieder und schleuderte die Sterblichen aus dem Weg. Ich fegte mitten durch Mauern, um gleich wieder in die stinkende Luft der Schlammstraßen zu schießen. Und wie eine Furie jagte das Licht hinter mir her.
Und als ich ein ausgebranntes Haus fand, ging ich hinein und verfügte mich sofort in die Erde des Gartens, grub mich tiefer und tiefer und tiefer, bis ich meine Arme und Hände nicht mehr rühren konnte.
Ich war von Kühle und Dunkelheit umfangen.
Ich war in Sicherheit.
6
Ich lag im Sterben. Dachte ich wenigstens. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Nächte verstrichen waren. Ich mußte aufstehen und nach Alexandrien gehen. Ich mußte das Meer überqueren. Aber das bedeutete, sich zu bewegen, sich in der Erde umzudrehen, dem Durst nachzugeben.
Und ich blieb liegen.
Der Durst kam und verging. Ich erlitt Folterqualen, und mein Hirn dürstete, wie mein Herz dürstete, und mein Herz wurde immer größer und lauter, und ich rührte mich noch immer nicht.
Vielleicht konnten die Sterblichen oben mein Herz hören. Ab und zu sah ich sie, zuckende Flammen in der Dunkelheit, hörte ich ihre Stimmen, Geplapper in einer fremden Sprache. Aber meistens sah ich nur die Dunkelheit. Hörte ich nur die Dunkelheit.
Schließlich war ich nur noch in der Erde liegender Durst, voll roten Schlafs und roter Träume und der mählichen Gewißheit, daß ich inzwischen zu schwach war, mich durch die weiche, sandige Erde ins Freie zu stoßen, zu schwach, begreiflicherweise, das Steuer wieder herumzureißen.
Stimmt. Ich konnte mich nicht mehr erheben. Ich konnte mich überhaupt nicht bewegen. Ich atmete. Aber nicht so, wie Sterbliche atmen. Mein Herz dröhnte mir in den Ohren. Und dennoch starb ich nicht. Ich verfiel nur. Meine Hände waren Klauen, ich war bis auf die Knochen abgemagert, und meine Augen quollen aus den Höhlen hervor.
Interessant, daß wir auch so bis in alle Ewigkeit existieren können, daß wir, selbst wenn wir auf das köstliche Vergnügen des Saugens verzichten, einfach weiterexistieren. Das ist schon interessant, wenn bloß nicht jeder Herzschlag solche Qual verursachen würde.
Und wenn ich aufhören könnte zu denken: Nicolas de Lenfent ist nicht mehr. Meine Brüder sind nicht mehr. Schaler
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