Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
eingetroffen war. Sie hatte ihn versteckt!
»Aber warum hast du das getan?« fragte ich. Ich kochte vor Wut. Ich riß ihr das Kuvert aus der Hand und legte es auf den Tisch.
Ich starrte sie an und haßte sie, haßte sie wie nie zuvor. Nicht einmal als egoistisches Kind hatte ich sie so wie jetzt gehaßt!
»Warum hast du das versteckt?« fragte ich.
»Weil ich wenigstens eine Chance haben wollte!« flüsterte sie. Ihr Kinn zitterte. Ihre Unterlippe bebte, und ich sah die Bluttränen. »Aber selbst ohne diesen Brief«, sagte sie, »hast du dich entschieden.«
Ich riß das Kuvert auf. Der Brief und ein paar zusammengefaltete Ausschnitte aus englischen Zeitungen fielen heraus. Mit zitternden Händen entfaltete ich den Brief und fing zu lesen an:
Monsieur, wie Sie inzwischen wohl erfahren haben, hat der Pariser Pöbel am vierzehnten Juli die Bastille gestürmt. Die Stadt ist ein einziges Chaos. In ganz Frankreich hat es Aufstände gegeben. Monatelang habe ich mich vergeblich bemüht, mit Ihrer Familie Verbindung aufzunehmen, um sie, soweit es meine Möglichkeiten zugelassen hätten, sicher außer Landes zu bringen.
Doch letzten Montag erreichte mich die Nachricht, daß sich die Bauern und Gutspächter gegen Ihres Vaters Haus erhoben haben.
Ihre Brüder und deren Frauen und Kinder und alle anderen, die das Schloß zu verteidigen suchten, wurden umgebracht, ehe es geplündert wurde. Nur Ihr Vater konnte entkommen. Treuen Dienein war es gelungen, ihn während der Belagerung versteckt zu halten und später zur Küste zu bringen. Und heute ist er in der Stadt New Orleans in der ehemaligen französischen Kolonie Louisiana. Er bittet Sie, ihm zur Hilfe zu eilen. Er befindet sich gramgebeugt mitten unter lauter Fremden. Er bittet Sie zu kommen.
Er hatte noch mehr geschrieben. Entschuldigungen, Zusicherungen, Einzelheiten … völlig sinnloses Zeug.
Ich legte den Brief auf den Tisch. Ich starrte die Holzplatte an und die Lichtpfütze unter der Lampe.
»Geh nicht zu ihm«, sagte Gabrielle.
Ihre Stimme war in dieser großen Stille kleinlaut und belanglos. Aber die Stille war wie ein gewaltiger Schrei.
»Geh nicht zu ihm«, sagte sie wieder. Die Tränen bildeten Streifen auf ihrem Gesicht wie die Schminke eines Clowns; zwei lange, rote Bäche, die aus ihren Augen herabrannen.
»Raus hier«, flüsterte ich. Die Worte versickerten, und plötzlich schwoll meine Stimme wieder an. »Raus hier«, sagte ich. Und wieder konnte ich meine Stimme nicht im Zaum halten. Sie wuchs an, steigerte sich, bis ich die Worte wie eine verheerende Explosion ausstieß: »RAUS HIER!«
4
Ich träumte einen Familientraum. Wir alle umarmten einander. Sogar Gabrielle, in Samt gekleidet, war da. Das Schloß war eine rauchende Ruine. Die Schätze, die ich gehortet hatte, waren geschmolzen oder zu Asche geworden. Es läuft immer alles auf Asche hinaus. Asche zu Asche, wie es in dem alten Zitat heißt. Oder heißt es Staub zu Staub?
Egal. Ich war zurückgekehrt und hatte sie alle zu Vampiren gemacht, und da waren wir also, das Haus de Lioncourt, weißgesichtige Schönheiten allesamt, das blutsaugende Baby nicht ausgenommen, das in der Wiege lag, und seine Mutter beugte sich vor, um ihm eine zappelnde, graue Ratte zur Stärkung zu reichen.
Wir lachten und tauschten Küsse aus, während wir durch die Aschenhaufen gingen, meine weißen Brüder, ihre weißen Frauen, die geisterhaften Kinder über Opfer schwatzend, mein blinder Vater, der sich wie eine alttestamentarische Figur erhoben hatte und rief:
» Ich kann wieder sehen!«
Mein ältester Bruder legte seinen Arm um mich. In seinen hübschen Kleidern sah er einfach wundervoll aus. So gut hatte er noch nie ausgesehen; das Vampirblut hatte ihm ein durch und durch vergeistigtes Fluidum verliehen.
»Einfach klasse, daß du gekommen bist, um uns alle mit den Gaben der Finsternis zu retten.« Er lachte fröhlich.
»Den Zaubern der Finsternis, Liebster, den Zaubern der Finsternis«, sagte seine Frau.
»Andernfalls«, fuhr er fort, »wären wir jetzt natürlich alle tot!«
5
Das Haus war leer, die Koffer waren abgeholt worden. Das Schiff würde in zwei Nächten Alexandrien verlassen. Ich hatte nur noch das Handgepäck. Schließlich mußte der Sohn des Marquis gelegentlich seine Kleider an Bord wechseln. Und die Geige war selbstverständlich auch noch da.
Gabrielle stand an der Tür zum Garten, schlank, langbeinig, in weißen Kattun gewandet, das Haar offen.
War das wegen mir, das lange, offene
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