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Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis

Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis

Titel: Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Tabernakel umgab sie wie ein flammendes Rund, und wo der Mann saß, war nur noch ein verschwommener Nebelschleier. Ich näherte mich ihr unwillkürlich und beugte mich vor und hätte beinahe ihre Lippen geküßt. Ich wollte. Ich neigte mich noch näher. Dann fühlte ich ihre Lippen.
    Ich wollte das Blut in meinen Mund dringen und in sie strömen lassen, wie einst bei Gabrielle, als sie im Sarg gelegen hatte. Der Zauberbann wurde stärker, und ich blickte in die unergründlichen Gestirne ihrer Augen.
    Ich küsste die Göttin auf den Mund, was ist los mit mir?! Bin ich verrückt, auch nur daran zu denken?
    Ich wich zurück. Ich fand mich wieder an der Wand, bebend, die Hände an die Schläfen gepreßt. Wenigstens hatte ich diesmal keine Vasen umgeworfen, aber ich weinte wieder.
    Marius schloß die Türen des Tabernakels. Er ließ den inneren Riegel zugleiten.
    Wir gingen hinaus, und er schloß den Innenriegel auf nämliche Weise. Den Balken legte er mit seinen Händen in die Halterungen.
    »Komm, Kleiner«, sagte er. »Laß uns nach oben gehen.«
    Aber wir hatten erst ein paar Schritte zurückgelegt, als wir ein scharfes, klickendes Geräusch hörten. Er drehte sich um und blickte zurück.
    »Schon wieder«, sagte er. Und Kummer legte sich wie ein Schatten auf sein Gesicht.
    »Was?« Ich suchte Schutz an der Wand.
    »Das Tabernakel, sie haben es geöffnet. Komm. Ich gehe später zurück und verschließe es, bevor die Sonne aufgeht. Jetzt gehen wir erst einmal in den Salon zurück, und dann werde ich dir meine Geschichte erzählen.«
    Kaum hatten wir den Salon erreicht, brach ich regelrecht in dem Sessel zusammen und vergrub meinen Kopf in den Händen. Marius stand ruhig da und sah mich an, und als ich es merkte, blickte ich hoch.
    »Sie hat dir ihren Namen genannt«, sagte er.
    »Akascha!«, sagte ich, als würde ich ein Wort aus dem Strudel eines verwehenden Traumes haschen. »Sie hat ihn mir gesagt! Ich habe >Akascha< laut ausgesprochen.« Ich sah ihn an, flehte um Antworten. Um eine Erklärung, warum er mich so anstarrte.
    Ich fürchtete, den Verstand zu verlieren, wenn sein Gesicht derart ausdruckslos bliebe.
    »Bist du böse auf mich?«
    »Schschscht. Sei ruhig«, sagte er.
    Ich konnte nichts hören. Außer das Meer vielleicht. Vielleicht noch ein Knistern der Kerzendochte. Vielleicht den Wind. Nicht einmal ihre Augen waren so leblos gewesen wie jetzt die seinen.
    »Irgend etwas rührst du in ihnen auf«, flüsterte er.
    Ich erhob mich.
    »Was hat das zu bedeuten?«
    »Ich weiß nicht«, sagte er. »Vielleicht nichts. Das Tabernakel ist noch immer geöffnet, und sie sitzen da wie immer. Wer weiß?«
    Und plötzlich hatte ich Verständnis für all die langen Jahre, in denen er sich um Wissen bemüht hatte. Wahrscheinlich Jahrhunderte, aber Jahrhunderte kann ich mir nicht vorstellen. Nicht einmal jetzt. Ich konnte nachvollziehen, wie er jahrelang vergeblich versucht hatte, aus den kleinsten Anzeichen etwas zu erfahren, und ich wußte, daß er sich fragte, warum ich ihr das Geheimnis ihres Namens entlockt hatte. Akascha.
    Stille. Er stand so verloren in dem Zimmer wie ein Heiliger, den man von einem Altar genommen und im Seitengang einer Kirche abgestellt hatte.
    »Marius!« flüsterte ich.
    Erwachte auf, und sein Gesicht erwärmte sich langsam, und er sah mich liebevoll an, fast erstaunt. »Ja, Lestat«, sagte er und drückte meine Hand. Er nahm Platz, und wieder saßen wir einander behaglich gegenüber. Die Zimmerbeleuchtung und der nächtliche Himmel hinter den Fenstern hatten eine beruhigende Wirkung.
    Seine alte Lebendigkeit kehrte in ihn zurück, seine Augen funkelten gutgelaunt. »Es ist noch nicht Mittemacht«, sagte er. »Und auf den Inseln ist alles in Ordnung. Ich glaube, es ist an der Zeit, daß du die ganze Geschichte erfährst.«

Marius’ Geschichte

5
    Es geschah in meinem vierzigsten Lebensjahr in einer wannen Frühlingsnacht in der römisch-gallischen Stadt Massilia, als ich in einer schmuddeligen Taverne am Hafen saß und meine Weltgeschichte niederkritzelte.
    Die Taverne war herrlich verkommen und überfüllt, ein Treffpunkt für Matrosen und Umhergetriebene, Reisende wie ich, und irgendwie mochte ich sie alle, obwohl die meisten, im Gegensatz zu mir, arm waren, und sie konnten nicht lesen, was ich da schrieb, wenn sie einen Blick über meine Schulter warfen.
    Ich hatte in Massilia Quartier genommen nach einer langen Studienreise, die mich durch alle großen Städte des Imperiums geführt hatte.

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