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Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis

Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis

Titel: Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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blasse Geistergestalt, die meine öde Behausung wie ein weißes Licht erhellte, seine ruhige, getragene Stimme, die so melodisch seinen ganzen Unsinn vortrug.
    Es stellte sich bald heraus, daß seine Verse keine zusammenhängenden Göttergeschichten ergaben, wie wir das im Griechischen und Lateinischen gewohnt waren. Aber langsam traten aus den Strophen die Eigenarten der verschiedenen Götter hervor. Eine Fülle von Gottheiten gehörte den himmlischen Scharen an. Aber der Gott, der ich werden sollte, übte den größten Einfluß auf Mael und seine Schüler aus. Dieser Gott war namenlos, erfreute sich aber zahlreicher Ehrentitel, wobei Trinker des Blutes am geläufigsten war. Er war auch Der Weiße, Der Gott der Nacht, Der Gott der Eiche, Der Geliebte der Mutter.
    Dieser Gott begehrte immer bei Vollmond ein Blutopfer. Aber am Samhain (dem ersten November nach unserem jetzigen christlichen Kalender - dem Tag, der zu Allerheiligen oder zum Totenfeiertag erklärt wurde) wurden diesem Gott in Anwesenheit des gesamten Stammes zahllose Menschenopfer dargebracht, damit er für eine gute Ernte sorge und alle möglichen Weissagungen und Urteile spreche.
    Er diente der Großen Mutter, die unsichtbar, doch in allen Dingen lebendig und die Mutter aller Dinge war, der Erde, der Bäume, des Himmels, der Menschen, des Trinkers des Blutes selbst, der in ihrem Garten lustwandelte.
    Mein Interesse wuchs allmählich, und mit ihm begann ich auch mehr und mehr von dem zu verstehen, was er sagte. Die Verehrung der Großen Mutter war mir sicher nichts Neues. Die Mutter Erde und die Mutter aller Dinge wurde unter Dutzenden verschiedener Namen im ganzen Imperium verehrt, wie auch ihr Liebhaber und Sohn, ihr Sterbender Gott, der wie die Halme heranwuchs, nur um wie diese niedergeschnitten zu werden, während die Mutter unsterblich war. Der alte, milde Mythos der Jahreszeiten. Aber das heilige Fest war fast nie und nirgends milde.
    Denn die Göttliche Mutter war auch der Tod, die Erde, die die Überreste dieses jungen Liebhabers verschlang, die Erde, die uns alle verschlang. Und in Übereinstimmung mit dieser alten Wahrheit - so alt wie das Ausstreuen der Saat selbst - gingen tausend blutige Rituale einher. Diese Göttin wurde in Rom unter dem Nymen Kybele verehrt, und ich hatte gesehen, wie sich ihre wahnsinnigen Priester vor lauter Ekstase selbst kastrierten. Und die sagenhaften Götter hatten ein nicht minder gewaltsames Ende gefunden - Attis entmannt, Dionysos in Stücke gerissen, der alte ägyptische Osiris verstümmelt, ehe ihn die Große Mutter Isis wieder zusammenfügte.
    Und nun sollte ich dieser Gott des Gedeihens werden - der Weingott, der Getreidegott, der Baumgott, und ich wußte, daß es, was auch immer geschehen mochte, schlichtweg entsetzlich sein würde.
    Was blieb mir schon anderes übrig, als mich zu betrinken und mit Mael diese Hymnen herunterzuleiern, dessen Augen sich zuweilen mit Tränen füllten, wenn er mich anblickte.
    ›Bring mich fort von hier, du Gespenst‹, sagte ich einmal wuterfüllt. ›Warum zum Teufel wirst du nicht der Baumgott? Warum wird ausgerechnet mir diese Ehre zuteil?‹
    ›Ich habe dir doch gesagt, daß der Gott mir seinen Wunsch anvertraut hat. Er hat nicht mich auserwählt. ‹
    ›Und würdest du dich dreinfügen, wenn du der Auserwählte wärest?‹ begehrte ich zu wissen.
    Ich hatte es satt, dauernd von diesen alten Riten erzählt zu bekommen, wonach jeder, dem Krankheit oder Unglück drohte, dem Gott ein Menschenopfer bringen mußte, um verschont zu bleiben.
    ›Ich hätte Angst, aber ich würde es hinnehmen‹, flüsterte er. ›Aber weißt du, was das Schreckliche deines Schicksals ist? Daß deine Seele ewig in deinem Körper eingekerkert bleiben wird. Sie wird nie durch einen natürlichen Tod in einen anderen Körper oder in ein anderes Dasein ziehen dürfen. Nein, für alle Zeiten wird deine Seele die Seele des Gottes sein. Der Kreislauf von Tod und Wiedergeburt wird in dir verschlossen sein.‹
    Obwohl ich seinen Glauben an Wiedergeburt geringachtete, brachten mich seine Worte zum Stillschweigen. Ich spürte das schaurige Gewicht seiner Überzeugung, ich spürte seine Trauer.
    Die Tage vergingen, und mein Haar wurde länger und voller. Und der heiße Sommer wich dem kühleren Herbst, und das große Samhainfest rückte näher. Und doch hörte ich nicht auf, Fragen zu stellen.
    ›Wie viele hast du auf diese Weise zu Göttern gemacht? Was hat dich veranlaßt, mich auszuerwählen?

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