Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
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›Ich habe noch nie einen Menschen zu einem Gott gemachte sagte Mael. ›Aber der Gott ist alt; er ist seiner Magie verlustig gegangen. Ein schreckliches Unheil hat ihn heimgesucht, und darüber kann ich nicht sprechen. Er hat seinen Nachfolger auserwählt. ‹ Er sah verschreckt aus. Er verriet zuviel. Irgend etwas wühlte seine tiefsten Ängste auf.
›Und woher weißt du, daß er ausgerechnet mich will? Schließlich hast du noch sechzig weitere Kandidaten in dieser Festung untergebracht. ‹
Er schüttelte den Kopf und sagte: ›Marius, wenn du das Blut nicht trinkst, wenn du nicht der Vater einer neuen Götterwelt wirst, was soll dann aus uns werden?‹ ›Ich wollte, daß ich mich auch nur einen Deut darum scheue, mein Freund‹, sagte ich.
›Ach, Unheil‹, flüsterte er. Und es folgte eine ausführliche Betrachtung über den Aufstieg Roms, die schrecklichen Überfälle Caesars, den Niedergang eines Volkes, das schon immer in diesen Bergwäldern gelebt und für die Städte der Griechen, Etrusker und Römer nur Verachtung übrig gehabt hatte.
›Kulturen kommen und gehen, mein Freund‹ sagte ich. ›Alte Götter weichen neuen. ‹
›Du verstehst nicht, Marius‹, sagte er. »Unser Gott ist nicht von euren Götzen besiegt worden, und jenen, die ihre frivolen und schlüpfrigen Geschichten verbreiten. Unser Gott war so schön, als habe ihn der Mond selbst aus seinem Licht geformt, und er sprach mit einer Stimme, die so rein wie Licht war, und er führte uns zum Einklang mit allen Dingen, der einzigen Erlösung aus Verzweiflung und Einsamkeit. Aber ein furchtbares Unheil hat ihn heimgesucht, und in allen nördlichen Regionen des Landes sind auch andere Götter zugrunde gegangen. Es war die Rache des Sonnengottes, aber wie die Sonne während der Stunden der Dunkelheit und des Schlafes seiner hat habhart werden können, wissen weder wir noch er. Du bist unsere Rettung, Marius. Du bist der Wissende Sterbliche, Der Gelehrte und Der, Der Nach Ägypten Gehen Kann.‹
Ich dachte darüber nach. Ich mußte an den alten Isis-und-Osiris-Kult denken und an jene, die sagten, sie sei die Mutter Erde und er das Getreide, und Typhon, der Mörder des Osiris, sei das Feuer des Sonnenlichts. Und nun erzählte mir dieser Druide, daß die Sonne seinen Nachtgott aufgespürt und großes Unheil gestiftet habe.
Schließlich verließen mich meine Verstandeskräfte. Allzu viele Tage hatte ich in Trunkenheit und Einsamkeit verbracht. Ich legte mich in der Dunkelheit nieder und sang mir die Hymnen an die Große Mutter vor. Für mich war sie jedoch keine Göttin. Weder Diana von Ephesus mit ihren Reihen milchgefüllter Brüste noch die schreckliche Kybele, noch die sanftmütige Demeter, deren Wehklagen um Persephone im Reich der Toten die heiligen Eleusinischen Mysterien angeregt hatten. Sie war die gute Erde, die ich durch die kleinen, vergitterten Fenster riechen konnte, der Wind, der die süße Feuchtigkeit des dunklen, grünen Waldes herbeitrug. Sie war die Wiesenblumen und das blühende Gras, das Wasser, das ich manchmal aus einer Bergquelle strömen hörte. Sie war all das, was ich in meinem Holzverschlag noch hatte, nachdem mir alles andere fortgenommen worden war. Und ich wußte nur, was alle Menschen wissen, daß dem Kreislauf von Winter und Frühling und allem, was wächst, eine erhabene Wahrheit innewohnt, die ohne Mythen oder Sprache auskommt.
Ich blickte durch die Gitterstäbe zu den Sternen, und mir schien es, daß ich auf absurdeste Weise sterben würde - unter Leuten, die ich nicht bewunderte und deren Gebräuche ich abgeschafft hätte. Und dennoch ließ mich die scheinbare Heiligkeit all dessen nicht mehr los und bewirkte, daß ich mich im Mittelpunkt von etwas sah, das über seine eigene hehre Schönheit verfügte.
Eines Morgens berührte ich mein Haar und mußte feststellen, daß es mir voll und lockig über die Schultern wallte.
Während der folgenden Tage herrschte hektisches Treiben in der Festung. Aus allen Richtungen rollten Wagen herbei. Stunde um Stunde kamen neue Menschen an, Tag und Nacht war alles auf den Beinen. Schließlich kamen Mael und acht andere Druiden zu mir. Ihre Gewänder waren frisch und weiß und rochen nach Quellwasser und Sonnenschein, und ihr Haar war gekämmt und glänzte.
Vorsichtig rasierten sie mir Kinn und Oberlippe. Sie kürzten meine Fingernägel. Sie kämmten mein Haar und kleideten mich ebenfalls in weiße Gewänder. Dann schirmten sie mich rundum mit weißen Schleiern ab
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