Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
Wann würde er jagen? Wann würde er trinken? Sein Blut hatte zwei Nächte lang für mich gereicht, vielleicht sogar noch länger. Aber wessen Blut ernährte ihn? Hatte er kurz davor ein Opfer gehabt? Würde er jetzt gleich auf die Jagd gehen? Immer mehr kam mir der Verdacht, daß er das Blut gar nicht mehr so sehr benötigte, nicht so wie ich. Daß er, genauso wie JENE, DIE BEWAHRT WERDEN MÜSSEN, immer weniger und weniger trank. Das wollte ich unbedingt wissen.
Aber er verließ mich. Das Dorf rief nach ihm. Er ging nach draußen auf die Terrasse und war verschwunden. Zuerst dachte ich, er sei ein Stück nach rechts oder links gegangen. Aber als ich durch die Tür ging und mich umsah, stellte ich fest, daß die Terrasse leer war. Ich ging bis ans Geländer und sah nach unten, wo sich, vor den Felsen weit unter mir, sein Umhang als heller Farbfleck abhob.
Das ist es also, worauf wir uns alle freuen können, dachte ich: daß wir vielleicht irgendwann gar kein Blut mehr benötigen, daß unsere Gesichter allmählich alles Menschliche verlieren, daß wir kraft unserer Gedanken Gegenstände versetzen können, daß wir beinahe fliegen können. Daß wir in vielen tausend Jahren eines Nachts in völligem Schweigen dasitzen wie JENE, DIE BEWAHRT WERDEN MÜSSEN? Wie oft hatte Marius an diesem Abend ausgesehen wie sie? Wie lange saß er so bewegungslos da, wenn niemand hier war?
Und was bedeutete für ihn das halbe Jahrhundert, das ich weit entfernt, auf der anderen Seite des Meeres, verbringen würde, um dieses eine sterbliche Leben durchzustehen?
Ich drehte mich um und ging zurück ins Haus, in den Raum, den er mir überlassen hatte. Und ich saß da und sah hinaus aufs Meer und in den Himmel, bis es hell wurde. Als ich den Sarkophag in seinem kleinen Versteck öffnete, lagen dort frische Blumen. Ich setzte die goldene Maske auf und zog die Handschuhe an und legte mich in den Sarg aus Stein, und als ich die Augen zumachte, konnte ich noch die Blumen riechen.
Der schreckliche Augenblick kam näher. Wenn das Bewußtsein schwand. Und an der Grenze zum Traum hörte ich das Lachen einer Frau. Sie lachte fröhlich und ausdauernd, als wäre sie sehr glücklich, inmitten einer Unterhaltung, und gerade als ich in die Dunkelheit eintauchte, beugte sie den Kopf zurück, und ich sah ihre weiße Kehle.
15
Als ich die Augen öffnete, hatte ich eine Idee. Sie kam ganz plötzlich und ergriff augenblicklich von mir Besitz, so daß ich den Durst, der mich quälte, und das Brennen in den Adern kaum noch spürte.
»Anmaßung«, flüsterte ich. Aber die Idee war außerordentlich verlockend. Nein , vergiß es. Marius hat gesagt, daß ich nicht m die Nähe der den Göttern geweihten Stätte darf, und außerdem kommt er um Mitternacht zurück, und dann kannst du ihm von deiner Idee erzählen. Und dann kann er… was? Traurig den Kopf schütteln.
Ich ging ins Haus, und alles war so, wie es in der vergangenen Nacht gewesen war, Kerzen brannten, die Fenster waren weit geöffnet, und draußen im Freien das schöne Schauspiel des verblassenden Lichts. Es kam mir unvorstellbar vor, daß ich schon so bald von hier fort sollte. Und daß ich niemals zurückkommen würde und daß er selbst diesen ungewöhnlichen Ort verlassen würde.
Ich war unglücklich und fühlte mich elend. Und dann kam mir diese Idee; es nicht in seinem Beisein zu tun, sondern still und heimlich, damit ich mir nicht albern vorkam, ganz allein hinzugehen.
Nein. Tu ‘s nicht. Es führt ja doch zu nichts. Gar nichts wird geschehen, wenn du’s tust. Aber wenn das stimmt , warum soll ich es dann nicht tun? Warum nicht jetzt gleich?
Ich machte wieder meine Runde, durch die Bibliothek und die Säulengänge und den Raum mit den Vögeln und Affen und in Gemächer, in denen ich noch nicht gewesen war.
Aber der Gedanke wollte mir nicht aus dem Kopf. Und der Durst quälte mich immer schlimmer, und ich wurde immer aufgeregter und rastloser, so daß ich gar nicht mehr fähig war, über all das, was Marius mir erzählt hatte, nachzudenken, und was es später einmal zu bedeuten haben würde.
Er befand sich nicht im Haus. Das war sicher. Schließlich war ich durch sämtliche Räume gegangen. Wo er schlief, war sein Geheimnis, und ich wußte, daß es noch andere Wege gab, ins Haus zu gelangen, die ebenfalls sein Geheimnis waren.
Aber die Tür zu der Treppe, die nach unten führte, zu JENEN, DIE BEWAHRT WERDEN MÜSSEN, entdeckte ich ganz leicht. Und sie war nicht verschlossen.
Ich stand in
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