Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
zu wiederholen. Wenn Marius nicht rechtzeitig gekommen wäre…
»Aber was ist denn eigentlich passiert, Marius? Was hast du gesehen?«
»Ich wünschte, er könnte uns nicht hören«, sagte Marius trübsinnig. »Es ist Wahnsinn, etwas zu sagen oder zu denken, das ihn nur noch mehr verstört. Ich muß dafür sorgen, daß er sich wieder fängt.«
Und jetzt war er erst richtig wütend und drehte mir den Rücken zu.
Aber wie sollte ich nicht daran denken? Ich wünschte, ich hätte meinen Kopf öffnen und die Gedanken herausreißen können. Sie rasten durch meinen Kopf wie ihr Blut durch meinen Körper. Und in ihrem Körper existierte noch immer eine Seele, ein Verlangen, ein flammender geistiger Kern, dessen Hitze wie ein flüssiger Blitz durch mich gefahren war, und ohne Frage hatte Enkil sie in seinem Todesgriff! Ich verfluchte ihn. Ich wollte ihn vernichten. Und ich malte mir in meinem Kopf alle möglichen Wahnsinnsideen aus, wie er vernichtet werden könnte, ohne uns zu gefährden, solange sie nur dablieb!
Aber das ergab keinen Sinn. Waren die Dämonen nicht zuerst in ihn gefahren? Aber wenn das nun nicht so…
»Hör auf, junger Mann!« fuhr mich Marius an.
Ich fing wieder zu weinen an. Ich fühlte meinen Hals, wo sie ihn berührt hatte, und leckte mir die Lippen und schmeckte wieder ihr Blut. Ich sah zu den Sternen über uns, und selbst diese gütigen ewigen Dinge kamen mir böse und sinnlos vor, und ich fühlte, wie sich in meiner Kehle wieder ein Schrei formte.
Die Wirkung ihres Blutes ließ bereits nach. Die erste Hellsicht war verwischt, und meine Gliedmaßen waren wieder meine Gliedmaßen. Vielleicht waren sie kräftiger, ja, aber die Zauberkraft schwand dahin. Geblieben war nur etwas, das stärker war als die Erinnerung an den Kreislauf des Blutes, der durch uns beide geführt hatte. »Marius, was ist passiert?« fragte ich, schrie es durch den Wind. »Sei nicht böse mit mir, wende dich nicht ab von mir. Ich kann nicht…«
»Pst, sei still, Lestat«, sagte er. Er drehte sich wieder zu mir um und nahm meinen Arm. »Mach dir meinetwegen keine Sorgen«, sagte er. »Mein Zorn ist jetzt nicht wichtig, und er richtet sich auch nicht gegen dich. Laß mir ein bißchen Zeit, mich zu sammeln.«
»Aber hast du denn nicht gesehen, was mit ihr und mir geschehen ist?« Er sah aufs Meer hinaus. Das Wasser war völlig schwarz, und die Gischt völlig weiß. »Doch, das habe ich gesehen«, sagte er.
»Ich habe die Geige genommen und wollte ihnen etwas vorspielen, ich dachte -«
»Ja, ich weiß, natürlich…«
»- daß die Musik sie berühren würde, vor allem diese Musik, diese seltsame, übernatürlich klingende Musik, du weißt, wie eine Geige…«
»Ja -«
»Marius, sie gab mir… sie… und sie nahm -«
»Ich weiß.«
»Und er hält sie dort fest! Er hält sie gefangen!«
»Lestat, ich bitte dich…« Er lächelte betrübt, traurig. Sperr ihn ein, Marius, so wie sie es getan haben, und laß sie frei! »Du träumst, mein Kind«, sagte er. »Du träumst.« Wieder drehte er sich um und ging ein Stückchen weg von mir, winkte mir, ihn allein zu lassen. Er ging hinunter zum Strand und ließ sich von den Wellen umspülen, während er auf und ab ging.
Ich bemühte mich von neuem, ruhig zu werden. Es kam mir so unwirklich vor, daß ich je an einem anderen Ort gewesen sein sollte als auf dieser Insel, daß dort draußen die Welt der Sterblichen war, daß das tragische Schicksal und die Bedrohung von JENEN, DIE BEWAHRT WERDEN MÜSSEN außerhalb dieser nassen und schimmernden Klippen niemandem bekannt war. Schließlich kam Marius zurück.
»Hör mir zu«, sagte er. »Direkt westlich von hier befindet sich eine Insel, die nicht unter meinem Schutz steht, und dort gibt es an der nördlichen Spitze eine alte griechische Stadt, in der die Tavernen der Seeleute die ganze Nacht über offen sind. Du fährst jetzt mit dem Boot dorthin, jagst und vergißt, was hier geschehen ist. Teile dir die neuen Kräfte, die du von ihr vielleicht erhalten hast, gut ein, aber sei bemüht, nicht an die beiden zu denken. Vor allem aber: Schmiede keine Pläne gegen ihn. Bevor es hell wird, kommst du zurück zum Haus. Das wird nicht schwierig sein. Dort wirst du ein Dutzend offener Türen und Fenster vorfinden. Tu jetzt, was ich dir gesagt habe, tu’s für mich.«
Ich ließ den Kopf hängen. Das war das einzige auf dieser Erde, das mich ablenken konnte, das jeden noblen oder ermüdenden Gedanken auslöschen konnte. Menschliches Blut
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