Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
meinem Kopf. Ich sah das Schöne in seiner ungezügelten Wildheit, so wie ich es vorige Nacht gesehen hatte, als Nicki Geige spielte, und die moralische Welt schien ein verzweifelter Traum der Vernunft zu sein, der in diesem wuchernden und stinkenden Dschungel nicht den Hauch einer Chance hatte. Es handelte sich um eine Vision, die ich eher sah als verstand, und ich war ein Teil dieser Vision, so natürlich wie die Katze, die mit leidenschaftsloser Kälte ihre Klauen in den Rücken der schreienden Ratte gräbt.
»’n hübscher Junge ist der Sensenmann«, grummelte ich hervor, »der all die Lebenslichter hier ausblasen kann, jedes Flatterseelchen, das die Luft dieses Hauses atmet.«
Die Worte waren meiner Kontrolle entzogen, sie bewegten sich in einer Sphäre, in der ein Gott existierte, der vielleicht die Zeichnung auf einer Schlangenhaut begriff oder die acht herrlichen Noten, die Nickis Geigenmusik ausmachten, aber niemals das Gesetz jenseits des Häßlichen und des Schönen: »Du sollst nicht töten.« Hunderte fettiger Gesichter glotzten mich aus dem Dunkel des Zuschauerraums an. Räudige Perücken und unechter Schmuck und verdreckter Flitterkram, Haut, die sich wie Wasser über krumme Knochen ergoß. Ein Haufen zerlumpter Bettler krakeelte und pfiff von den Rängen herunter, bucklig und einäugig, Krücken unter die stinkenden Achselhöhlen geklemmt, und Zähne so vergilbt wie die alter Totenschädel.
Ich warf meine Arme empor. Ich wippte in den Knien und fing an, mich im Kreis zu drehen, so wie die Akrobaten und Tänzer, auf einem Fußballen, fast schwerelos und immer schneller und schneller, bis ich Salti rückwärts und Purzelbäume vorwärts vollführte und alles nachmachte, was ich den Gauklern auf den Jahrmärkten abgeguckt hatte.
Sofort wurde ich mit Applaus belohnt. Ich war so beweglich wie einst im Dorf, und die Bühne war winzig und unzulänglich, und der Qualm der Rampenlichter verursachte mir Atemnot. Das Ständchen an Flaminia fiel mir wieder ein, und ich fing an, es lauthals zu singen, während ich weiter Luftsprünge machte und mich um die eigene Achse drehte. Und dann blickte ich zur Decke, spannte die Muskeln und machte einen gewaltigen Sprung in die Höhe.
In Sekundenschnelle berührte ich die Dachsparren, um elegant und lautlos wieder auf der Bühne zu landen. Das Publikum hielt den Atem an. Die anderen hinter der Bühne waren wie vom Donner gerührt. Die Musiker im Orchestergraben, die sich die ganze Zeit über ruhig verhalten hatten, gerieten in Bewegung. Sie konnten sehen, daß ich nicht an einem Draht hing.
Aber zum Entzücken des Publikums schwebte ich wieder empor, diesmal bis zur Decke Salti schlagend, um noch langsamerund noch kunstvoller dem Boden entgegenzustreben.
Das Publikum tobte vor Begeisterung, aber die hinter der Bühne waren wie versteinert. Nicki stand an der Seite, und seine Lippen formten stumm meinen Namen.
»Das muß ein Zaubertrick sein«, tuschelte es aus allen Ecken. Einen Moment lang sah ich Renauds Gesicht - der Mund offen, die Augen ungläubig aufgerissen.
Aber ich hatte wieder zu tanzen angefangen. Und diesmal war es eher eine Tanzparodie. Jede Bewegung war ausladender, langsamer, als es einem menschlichen Tänzer möglich gewesen wäre. Jemand rief mir etwas aus den Kulissen zu und wurde sofort zum Schweigen gebracht. Die Musiker und die Leute in den vorderen Reihen stießen kleine Schreie aus. Den Zuschauern wurde ungemütlich zumute, und nur der Mob auf den Rängen applaudierte weiter.
Plötzlich schoß ich zur Rampe vor, als wollte ich dem schlechten Benehmen des Publikums Einhalt gebieten. Ein paar Leute waren so erschrocken, daß sie sich erhoben und die Flucht ergreifen wollten. Ein Hornist ließ sein Instrument fallen und kletterte aus dem Orchestergraben.
Sie waren beunruhigt, ja, verärgert. Was waren das für Zaubertricks? Auf einmal fanden sie das alles nicht mehr amüsant; so viel Geschicklichkeit ging ihnen über den Verstand; und irgend etwas in meinem ernsthaften Gebaren flößte ihnen Furcht ein. Einen schrecklichen Augenblick lang spürte ich ihre Hilflosigkeit. Und ich spürte ihr Verderben.
Eine Horde klappernder Skelette waren sie, eingeschnürt in Fleisch und Lumpen, und dennoch hatten sie genug Mut, mich in ihrem unerschütterlichen Stolz anzubrüllen.
Langsam hob ich die Hände, um Ruhe zu bitten, und sehr laut und festen Tons sang ich das Liedchen an Flaminia, meine liebste Flaminia, ein langweiliges, kleines Couplet, das in
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