Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
ein anderes Couplet überging, und ich ließ meine Stimme immer mehr anschwellen, bis die Leute plötzlich aufstanden und mich anschrien, aber ich sang noch lauter, bis ich jedes andere Geräusch übertönte und übertoste, und sie erhoben sich, warfen die Bänke um und preßten sich die Ohren zu.
Ihre Gesichter waren zu Fratzen, ihre Münder zu lautlosen Schreien verzerrt.
Pandämonium. Gekreisch, Gefluche, alles tobte und stolperte den Ausgängen entgegen. Vorhänge wurden herabgerissen, Männer sprangen von den Rängen, um nach draußen zu eilen.
Ich hörte mit dem schrecklichen Gesang auf. Ich sah ihnen ohne Anteilnahme zu, diesen schwächlichen, schwitzenden Gestalten, die in alle Richtungen stoben. Der Wind pfiff durch die geöffneten Türen, und eine seltsame Kälte überzog meine Gliedmaßen, und meine Augen schienen aus Glas zu sein.
Ohne hinzusehen, hob ich meinen Degen auf und legte ihn wieder an, und meinen staubigen, zerknüllten Mantel griff ich mit gekrümmtem Zeigefinger am Samtkragen. Diese Gesten waren nicht minder grotesk als alles andere, was ich getan hatte, und mir war es gleichgültig, daß Nicki meinen Namen rief und sich zwei Schauspielern zu entwinden suchte, die ihn entsetzt festhielten.
Aber in diesem ganzen Chaos fesselte doch etwas meine Aufmerksamkeit. Es war mir alles andere als gleichgültig, ja, sogar überaus wichtig, daß da oben in einer der Logen eine Gestalt stand, die nicht zu entkommen versuchte, sich nicht einmal bewegte.
Ich drehte mich langsam um und sah zu ihr hinauf, als wollte ich sie zum Verweilen herausfordern. Es war ein alter Mann, und seine dumpfen, grauen Augen durchbohrten mich in starrer Wut. Und als ich ihn anblickte, hörte ich, wie sich meiner Kehle ein lauter Schrei entwand. Ein Schrei, der aus meiner Seele zu kommen schien und lauter und lauter wurde, bis die wenigen, die noch geblieben waren, sich die Ohren zuhielten, und sogar Nicolas, eben im Begriff vorzustürmen, krümmte sich und umklammerte seinen Kopf. Der Mann aber stand unbeweglich da, blickte finster drein, starr und grimmig, mit buschigen Augenbrauen unter seiner grauen Perücke.
Ich trat einen Schritt zurück, schnellte mit einem Sprung durch den leeren Zuschauerraum und landete genau vor ihm in der Loge. Unwillkürlich ließ er den Unterkiefer fallen, und seine Augen weiteten sich aufs schrecklichste. Vor lauter Alter war er völlig entstellt, seine Schultern waren gebeugt, seine Hände knotig, aber sein Blick verriet einen unbeugsamen Geist. Verbitterter Mund, hervorspringendes Kinn. Unter seinem Gehrock zog er eine Pistole hervor und zielte mit beiden Händen auf mich.
»Lestat!« rief Nicki noch. Aber der Schuß löste sich, und die Kugel traf mich mit voller Kraft. Ich rührte mich nicht. Ein Schmerz durchfuhr mich und hörte dann auf, bis auf ein schreckliches Zerren in all meinen Adern.
Blut brach hervor. Es floß, wie ich Blut niemals habe fließen sehen. Es durchnäßte mein Hemd, und ich fühlte es meinen Rücken hinunterrinnen. Das Zerren wurde immer stärker, und ein warmes, prickelndes Gefühl überzog Brust und Rücken.
Der Mann starrte mich sprachlos an. Die Pistole entglitt seiner Hand. Sein Kopf kippte nach hinten, die Augen brachen, und sein Körper zerschrumpelte, als hätte man die Luft aus ihm gelassen, und er lag auf dem Boden.
Nicki war die Treppen emporgerast und stürmte jetzt in die Loge. Er stammelte wirres Zeug, glaubte, meinem Ableben beizuwohnen. Meine ganze Aufmerksamkeit galt meinem Körper, während ich ruhig dastand, umfangen von jener schrecklichen Einsamkeit, die mich verfolgte, seit Magnus mich zum Vampir gemacht hatte. Und ich wußte, daß die Wunden nicht mehr waren.
Das Blut trocknete auf der Seidenweste, auf meinem zerrissenen Mantel. Ein klopfendes Hämmern an der Körperstelle, wo die Kugel eingedrungen war, und in den Adern noch dieses Zerren, aber die Verletzung war verschwunden.
Und Nicolas gewann allmählich wieder die Besinnung und sah, daß mir nichts passiert war, obwohl ihm der gesunde Menschenverstand das Gegenteil sagte.
Ich schob mich an ihm in Richtung Treppe vorbei. Er warf sich mir entgegen, doch ich schüttelte ihn ab. Ich konnte weder seinen Anblick noch seinen Geruch ertragen. »Laß mich in Ruhe!« sagte ich.
Aber er kam mir nach und klemmte mir seinen Arm um den Hals. Sein Gesicht war aufgedunsen, und ein schrecklicher Laut entwand sich ihm.
»Laß mich los, Nicki!« Ich drohte ihm. Stieße ich ihn zu brutal fort,
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