Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
beschreiten mir bestimmt war. Was bedeuteten mir jetzt noch all die anderen - die Diebe und Killer, die ich im Dschungel von Paris ausgesaugt hatte? Nur das wollte ich, nur ihn wollte ich. Und der Gedanke an Nickis möglichen Tod ließ mein Hirn fast explodieren.
Das Dunkel unter meinen geschlossenen Augenlidern hatte eine blutrote Färbung angenommen. Ich konnte mich nicht rühren. Mir war, als hätte ich meine Zähne bereits in seinen Hals gegraben, als würde sein Blut in mich strömen. »Nimm ihn«, rief es in mir, »schaff ihn fort von hier und labe dich an ihm und labe dich an ihm… bis…« Bis was? Bis er tot ist!
Ich stieß ihn zurück. Die Leute um uns veranstalteten einen Höllenlärm. Renaud brüllte die Akrobaten an, die uns angafften. Das Publikum verlangte mit rhythmischem Klatschen nach dem Intermezzo. Das Orchester dudelte schon das fröhliche Begleitliedchen für die Akrobaten. Knochen und Fleisch pufften und knufften mich, die reinste Metzgerei, durchschwängert vom Gestank schlachtreifer Lebewesen. Und ein allzumenschliches Gefühl bemächtigte sich meiner: Übelkeit.
Nicki war irgendwie außer sich, und als sich unsere Blicke trafen, gewahrte ich nur Vorwürfe, Elend und Verzweiflung.
Ich fegte an allen vorbei, den Schauspielern, den Akrobaten mit ihren bimmelnden Glöckchen, und ich weiß selbst nicht, warum ich in die Kulissen stob, anstatt durch die Seitentür das Weite zu suchen. Ich wollte Bühnenluft schnuppern. Ich wollte das Publikum sehen. Ich wollte in eine Welt eindringen, für die ich weder Namen noch Begriff hatte.
Aber ich kochte vor Wut. Meine Brust krampfte sich zusammen, und der Durst war wie eine tollwütige Katze, die ausbrechen wollte. Und während ich noch an dem Holzpfosten neben dem Vorhang stand, eilte Nicki, der nichts begriff und zutiefst beleidigt war, wieder an meine Seite.
Mein Durst tobte, riß mir fast das Gedärm auf. Und in meiner Erinnerung tauchten alle meine Opfer auf, der Abschaum von Paris, und wie nie zuvor war ich mir bewußt, ein Verdammter zu sein.
Den köstlichsten Wein hatte ich aus geborstenen Fässern getrunken, und nun stand der Priester auf den Stufen des Altars vor mir und reichte mir den Kelch mit dem Blut des Lamms.
Nicki redete wie ein Wasserfall; »Lestat, was ist los mit dir? Sag schon!« Er kümmerte sich nicht um die anderen. »Wo warst du? Was war los? Lestat!«
»Los, auf die Bühne!« blaffte Renaud die gaffenden Akrobaten an. Sie trollten sich hinaus und legten ein paar Salti hin. Das Orchester imitierte auf seinen Instrumenten zwitschernde Vögel. Ein roter Blitz, Harlekinsärmel, klimpernde Glöckchen, Spottrufe aus der ungehaltenen Menge: »Zeigt uns was, na los, kommt, zeigt uns was!«
Luchina gab mir einen Kuß, und ich starrte ihren weißen Hals an, ihre milchfarbenen Hände. Ich konnte die Adern in Jeannettes Gesicht sehen, und ihre Unterlippe erinnerte an ein weiches Kissen. Wir tranken Champagner aus kleinen Gläsern. Renaud hielt eine Rede über unsere » Partnerschaft«, und die kleine Komödie, die heute abend gegeben werde, sei nur der Anfang, und bald seien wir das bedeutendste Theater der Stadt. Ich sah mich als Lelio herausgeputzt und hörte das Liedchen, das ich auf gebeugtem Knie Flaminia entgegensang.
Vor mir wirbelten kleine Sterbliche über die Bühne, und das Publikum johlte, als der Anführer der Akrobaten eine vulgäre Bewegung mit seinem Hintern machte.
Wie von einem Mechanismus getrieben, ging ich auf die Bühne. Ich stand genau in der Mitte. Der Qualm der Rampenlichter stach mir in die Augen, und ich starrte auf die überfüllten Ränge, die Logen, die Zuschauer im Parkett. Und ich hörte, wie ich den Akrobaten befahl, zu verschwinden.
Das Gelächter und Gejohle, mit dem ich begrüßt wurde, war ohrenbetäubend, und hinter jedem Gesicht im Zuschauerraum machte ich einen grinsenden Schädel aus. Ich summte eine Zeile des Liedchens, das ich als Lelio gesungen hatte, »liebste, liebste Flaminia«, wieder und wieder, bis die Wörter zu sinnentleerten Klängen wurden.
Beleidigungen tönten durch den Lärm. »Weiter mit der Aufführung!« und »Bist ja ‘n hübscher Junge, aber jetzt wollen wir was sehen!« Vom dritten Rang warf jemand einen halbaufgegessenen Apfel, der genau neben meinen Füßen einschlug.
Ich ließ erst meinen violetten Mantel zu Boden sinken, dann den silbernen Degen. Das Lied war zu einem wirren Gesumme hinter meinen Lippen geraten, aber eine wahnwitzige Poesie pulsierte in
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