Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
würde ich ihm die Arme aus den Gelenken reißen, seinen Rücken brechen.
Seinen Rücken brechen …
Er jammerte, stotterte. Und für den qualvollen Bruchteil einer Sekunde waren die Laute, die er von sich gab, so schrecklich wie der Laut meines sterbenden Pferdes, damals in den Bergen.
Ich wußte kaum, was ich tat, als ich seine Hände fortstemmte.
Die Menge stob schreiend auseinander, als ich auf den Boulevard hinaustrat.
Renaud rannte zu mir, obwohl ihn einige zurückzuhalten suchten. »Monsieur!« Er ergriff meine Hand, um sie zu küssen, hielt jedoch inne, als er das Blut sah.
»Alles in Ordnung, mein lieber Renaud«, sagte ich und war einigermaßen überrascht, wie ruhig und sanft meine Stimme klang. Aber irgend etwas lenkte mich ab, als ich wieder zu sprechen anhob, etwas, dem ich meine Aufmerksamkeit hätte schenken sollen, wie ich mir halbbewußt eingestand.
»Verschwenden Sie keinen Gedanken daran, mein lieber Renaud«, sagte ich. »Künstliches Blut, nur ein Zaubertrick. Es war alles ein Zauberkunststück. Eine neue Theaterrichtung. Groteskes Theater, ja, groteskes Theater.«
Aber wieder diese Ablenkung, etwas, das ich in dem Gewühl um mich herum spürte, zwischen all den Leuten, die sich herbeidrängten und dennoch Distanz wahrten. Nicolas starrte mich wie betäubt an.
»Machen Sie weiter so«, sagte ich, fast unfähig, mich auf meine eigenen Worte zu konzentrieren, »mit Ihren Akrobaten, Ihren Tragödien, Ihren, wenn Sie wollen, etwas kultivierteren Darbietungen.«
Ich zog ein Paket Banknoten aus meiner Tasche und drückte es ihm in die zitternde Hand. Ich streute Goldmünzen auf das Pflaster. Die Schauspieler huschten vor, um sie aufzusammeln. Ich ließ meine Blicke über die Menge schweifen, um die Quelle jener eigentümlichen Ablenkung auszumachen. Was war das? Nicolas war es nicht, der mich vom Theatereingang aus mit gebrochenem Herzen beobachtete. Nein, es war etwas Vertrautes und zugleich Fremdes und hatte etwas mit der Finsternis zu tun.
»Engagieren Sie die besten Gaukler«, stammelte ich, »die besten Musiker, die großen Bühnenbildner.« Noch mehr Banknoten. Meine Stimme wurde wieder laut, die Vampirstimme, mir entging nicht, daß sie wieder Fratzen schnitten und die Hände hoben, aber sie hatten Angst, ich konnte sehen, wie sie sich die Ohren zuhielten. »Sie können alles erreichen, Ihnen sind keine Grenzen gesetzt, KEINE GRENZEN .«
Dann ergriff ich die Flucht, zog meinen Mantel hinter mir her, und der Degen rasselte über das Pflaster, da ich ihn nicht richtig umgeschnallt hatte. Und als ich in die erste Seitengasse einbog und zu rennen anfing, wußte ich, was mich abgelenkt hatte: die Anwesenheit’. Ich wußte es aus einem ganz einfachen Grund - ich rannte schneller durch die Gassen, als ein Sterblicher jemals hätte laufen können, und die Anwesenheit war kein Stück langsamer, und die Anwesenheit war mehr als einer!
Ich blieb stehen, als ich mir dessen sicher war. Ich war nur eine Meile von dem Boulevard entfernt, und die Gasse, in der ich mich befand, war so eng und schwarz, wie ich in noch keiner gewesen war. Und ich hörte sie, ehe sie ebenso plötzlich wie absichtlich keinen Laut mehr von sich gaben.
Mir war zu elend zumute, um noch Spielchen mit ihnen treiben zu können! Ich war zu verwirrt. Ich rief ihnen die alte Frage zu: »Wer seid ihr? Sprecht mit mir!« In den umliegenden Häusern klirrten die Fensterscheiben. Die Sterblichen regten sich in ihren kleinen Kammern. In dieser Gegend gab es keinen Friedhof. »Antwortet mir, ihr Feiglinge. Sprecht, wenn ihr eine Stimme habt, oder laßt mich ein für allemal in Ruhe!«
Und dann wußte ich, warum auch immer, daß sie mich hören konnten und daß sie mir, wenn sie wollten, antworten konnten. Und ich wußte, daß das, was ich immer gehört hatte, nichts anderes war als der aufdringliche Beweis ihrer Nähe, die sie gleichwohl zu verbergen verstanden. Ihre Gedanken aber hielten sie völlig geheim. Sie verfügten über einen Intellekt und über eine Sprache.
Ich stöhnte.
Ihr Schweigen kränkte mich, aber noch tausendmal mehr kränkte mich das, was soeben geschehen war, und wie schon so oft zuvor, kehrte ich ihnen den Rücken.
Sie folgten mir. Es gelang mir nicht, sie abzuhängen. Und ich wurde ihr unsichtbares und lautloses Geflimmer nicht los, bis ich die Place de Gréve erreicht hatte und in der Kathedrale von Notre Dame verschwand.
Ich verbrachte den Rest der Nacht in der Kathedrale, zusammengekauert in einer
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