Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
hatte, noch nicht tot war, das erzürnte mich, obwohl ich zugleich mit fieberhafter Erregung zusah.
Sie war kaltherziger als ich. »Sei gnadenlos«, hatte Magnus gesagt. Aber hatte er damit gemeint, wir sollten töten, auch wenn es nicht notwendig war?
Einen Augenblick später war klar, warum sie diese Tat begangen hatte. Sie riß ihm die Samtkluft vom Leib und zog sie sich an. Sie hatte den Knaben wegen seiner Kleidergröße ausgesucht und niedergemacht.
Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Als sie seine Sachen anzog, verwandelte sie sich in einen Knaben. Sie zog seine cremefarbenen Seidenstrümpfe und scharlachroten Kniehosen an, das Spitzenhemd und das gelbe Wams und dann den scharlachroten Gehrock, und sie nahm sich sogar noch das Stirnband des Jungen.
Irgend etwas bäumte sich in mir auf, als sie so verwegen in diesen neuen Kleidern da stand, mit ihrem Haar, das noch immer über die Schultern wallte, aber jetzt eher einer Löwenmähne als weiblicher Lockenpracht glich. Am liebsten hätte ich alles in Fetzen gerissen. Ich schloß die Augen.
Als ich sie wieder ansah, schwirrte mir den Kopf nach allem, was wir zusammen erlebt hatten. Ich konnte die Nähe des toten Jungen nicht mehr ertragen.
Sie umwickelte ihr Haar mit dem Stirnband und ließ die blonden Locken über ihren Rücken fließen. Sie deckte den Leichnam des Knaben mit ihrem rosa Kleid zu, und sie schnallte sich seinen Degen um und nahm seinen cremefarbenen Paletot.
»Laß uns jetzt gehen, Liebling«, sagte sie und küßte mich.
Ich war wie angewurzelt. Ich wollte zurück zum Turm und nur bei ihr sein. Sie sah mich an und drückte meine Hand, um mir einen Ruck zu geben. Und schon stob sie los, und ich holperte hintendrein und hatte meine liebe Not, sie einzuholen.
Sie schien zu fliegen. Und ich verlor fast das Gleichgewicht, wie sie so zwischen den brettervernagelten Ständen und Müllhaufen durchjagte. Schließlich blieb ich wieder stehen.
Sie kehrte um und küßte mich. »Aber es gibt doch keinen vernünftigen Grund, mich noch so wie früher zu kleiden, oder?« fragte sie in einem Ton, als spräche sie mit einem Kind.
»Nein, natürlich nicht«, sagte ich. Vielleicht war es ein Segen, daß sie meine Gedanken nicht lesen konnte. Ich konnte meine Blicke nicht von ihren Beinen wenden, die in den cremefarbenen Strümpfen einfach vollendet aussahen. Man darf nicht vergessen, daß man damals Frauenbeine nie zu Gesicht bekam. Oder so etwas wie die seidenen Kniestrümpfe, die sich eng über ihre Schenkel spannten.
Aber eigentlich war sie ja jetzt keine richtige Frau mehr, oder? Genausowenig wie ich ein Mann war. Eine stumme Sekunde lang sickerte das Grauen des Ganzen in mein Bewußtsein.
»Komm, ich möchte wieder auf die Dächer«, sagte sie. »Ich möchte zum Boulevard du Temple, um das Theater zu sehen, das du gekauft und dann zugemacht hast. Zeigst du’s mir?« Sie beobachtete mich genau, während sie diese Frage stellte.
»Natürlich«, sagte ich. »Warum nicht?«
Zwei Stunden waren von dieser endlosen Nacht noch übrig, als wir schließlich zur Ile St.-Louis zurückkehrten und auf den mondhellen Kais standen. Ganz hinten auf der gepflasterten Straße sah ich mein Pferd, da wo ich es angebunden hatte.
Wir spitzten die Ohren, um ein Lebenszeichen von Nicki oder Roget zu erhaschen, aber das Haus war finster und verlassen.
»Nickis Wohnung«, sagte ich. »Und von Nickis Wohnung aus kann jemand leicht das Pferd im Auge behalten, ein Diener etwa, der unsere Rückkunft abpassen soll.«
»Lieber das Pferd da lassen und ein anderes stehlen«, sagte sie. »Nein, es gehört mir«, sagte ich.
In diesem Augenblick umklammerte sie erschrocken meine Hand. Da war sie wieder, unsere alte Freundin, die Anwesenheit, und jetzt schlurfte sie auf der anderen Seite der Insel die Seine entlang, dem linken Ufer entgegen.
»Sie ist vorbei«, sagte sie. »Laß uns gehen. Wir können ein anderes Pferd stehlen.«
»Warte, vielleicht kann ich es herlocken. Vielleicht kann ich es dazu bringen, den Haltestrick zu durchreißen.«
»Meinst du?«
»Mal sehen.« Ich bündelte meine ganze Konzentrationskraft auf das Pferd und befahl ihm stumm, sich loszureißen und herzukommen.
Keine Sekunde verging, und das Pferd tänzelte los und zerrte am Zaumzeug. Dann bäumte es sich auf und war frei.
Es trappelte uns entgegen, und schon saßen wir auf, Gabrielle zuerst und ich sogleich hinter ihr. Ich ergriff die Reste des Zügels und trieb das Pferd zu einem mörderischen
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