Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
Viertel der Welt ausmacht! Öffne deine Ohren, mein Liebling; lausche ihren Gebeten; lausche dem Schweigen jener, die gelernt haben, um nichts zu beten. Denn nichts war immer ihr Anteil gewesen, unabhängig davon, wie ihr Land, ihre Stadt, ihr Stamm auch heißt.«
Zusammen gingen wir auf die Schlammstraße hinaus; vorbei an Kothaufen und verdreckten Pfützen, vorbei an den halbverhungerten Hunden und den Ratten, die über den Weg schössen. Dann gelangten wir zu einer Palastruine. Reptilien glitten zwischen den Steinen einher, Mückenhaufen durchschwirrten die Luft. Eine lange Reihe Obdachloser schlief neben einem Rinnstein. Weiter hinten im Sumpf verfaulten Leichen, aufgedunsen und vergessen.
»Aber was können wir machen?« flüsterte ich. »Warum sind wir hierhergekommen?« Wieder erregte mich ihre Schönheit, ihre plötzlich aufflammende Leidenschaft.
»Wie ich dir schon gesagt habe: Wir können die Welt verbessern. Wir können die alten Mythen Wirklichkeit werden lassen; und die Zeit wird kommen, da es ein Mythos sein wird, daß die Menschen jemals solche Erniedrigung kannten. Wir werden es in Angriff nehmen, mein Geliebter.«
»Aber das müssen sie doch selbst lösen. Das ist nicht nur ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sondern auch ihr Recht. Wenn wir uns da einmischen, muß das doch zu einer Katastrophe führen.«
»Das werden wir zu verhindern wissen«, sagte sie ruhig. »Du hast wirklich nichts verstanden. Du bist dir der Kraft nicht bewußt, über die wir jetzt verrügen. Nichts kann uns Einhalt gebieten. Aber du mußt jetzt aufpassen. Du bist noch nicht bereit, und ich möchte dich nicht schon wieder bedrängen. Wenn du wieder für mich tötest, mußt du es aus tiefster Überzeugung tun. Sei versichert, daß ich dich liebe, und ich weiß, daß man ein Herz nicht über Nacht erziehen kann. Aber lerne aus dem, was du siehst und hörst.«
Sie ging weiter. Einen Augenblick lang war sie bloß eine zarte Gestalt, die sich durch die Schatten bewegte. Dann plötzlich hörte ich, wie es in den kleinen Schuppen lebendig wurde, und ich sah die Frauen und Kinder hervorkriechen. Die schlafenden Wesen um mich herum fingen an, sich zu bewegen.
Ich suchte Schutz in der Dunkelheit.
Ich zitterte. Verzweifelt wollte ich etwas unternehmen, sie um Geduld bitten!
Aber wieder entschwand dieses Friedensgefühl, dieser Bann vollkommenen Glücks, und ich reiste Jahre zurück zu der kleinen französischen Kirche meiner Kindheit, als die Choräle anhoben. Durch meine Tränen sah ich den Altar schimmern, ich sah die Statue der Heiligen Jungfrau, einen leuchtenden Goldschein über den Blumen; ich hörte die Ave Marias wie Zaubersprüche geflüstert. Unter den Gewölben von Notre Dame de Paris hörte ich die Priester »Salve Regina« singen.
Laut und deutlich ertönte ihre Stimme, als sei sie in meinem Gehirn. Obwohl sie sich keiner Worte bediente, konnten sie die Sterblichen mit der gleichen unwiderstehlichen Macht hören. Wir stünden an der Schwelle eines neuen Zeitalters, einer neuen Welt, in der die Erniedrigten endlich in Frieden und Gerechtigkeit leben dürften. Die Frauen und Kinder wurden ermahnt, sich zu erheben und alle Männer im Dorf zu erschlagen. Von je hundert Männern dürfe nur einer überleben, und alle männlichen Babys sollten sofort getötet werden, nur eins von hundert solle man verschonen. Danach würde Frieden auf Erden herrschen; es würde keine Kriege mehr geben; man würde Essen im Überfluß haben.
Ich war unfähig, mich zu rühren oder meinem Entsetzen Ausdruck zu verleihen. Voll Schrecken hörte ich das verzückte Geschrei der Frauen. Die schlafenden Obdachlosen erhoben sich, nur um gegen die Wände getrieben zu werden, und sie starben, wie ich die Männer in Azims Tempel hatte sterben sehen. Die Frauen hasteten von Haus zu Haus, umzingelten die Männer und erschlugen sie mit jeder Waffe, die ihnen gerade in die Hände fiel. War dieses Barackendorf jemals derart von Leben erfüllt gewesen wie jetzt im Namen des Todes?
Und sie, die Himmelskönigin, hatte sich erhoben und schwebte über den Wellblechdächern, eine starre, zierliche Gestalt, die vor den Wolken leuchtete, als sei sie eine weiße Flamme.
Ich schloß die Augen und lehnte mich mit dem Gesicht gegen die Mauer, die Finger gegen die zerbröselnden Steine gedrückt. Wir gehörten nicht hierher! Wir hatten kein Recht dazu!
Ich weinte, aber gleichzeitig fühlte ich mich wieder in diesen wohligen Bann geschlagen. Ich spürte, wie
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