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Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten

Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten

Titel: Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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bemächtigte sich seiner. Er erinnerte alles - alles, das er je gesehen oder gewußt hatte oder gewesen war.
    Die Jahrhunderte öffneten sich vor ihm.
    Das Jahrtausend breitete sich aus, rührte immer weiter zurück bis zum Anfang.
    Erste Brut. Er wußte alles. Er bebte, weinte, er hörte, wie er haßerfüllt sagte: »Du!« Dann plötzlich bekam er, wie eine vernichtende Stichflamme, die ganze Kraft ihrer unverhüllten Macht zu spüren. Die Hitze fuhr ihm durch die Brust, und er taumelte rückwärts.
    Gütiger Himmel, du wirst auch mich töten! Aber sie konnte seine Gedanken nicht hören! Er war gegen die Mauer geprallt, und ein heftiger Schmerz durchstach seinen Kopf.
    Aber er konnte noch sehen, fühlen, denken! Und sein Herz klopfte so gleichmäßig wie zuvor. Er brannte nicht!
    Dann sammelte er sich und bekämpfte diese unsichtbare Macht mit einem gewaltigen Hieb seinerseits.
    »Ah, wieder die alte Arglist, meine Gebieterin«, schrie er in einer alten Sprache.
    Wie menschlich seine Stimme doch klang!
    Aber die Passage war leer. Sie war verschwunden.
    Oder besser, sie war fortgeflogen, hatte sich geradewegs emporgeschwungen, so wie er selbst es so oft getan hatte, und zwar derart schnell, daß es dem Auge unmöglich war zu folgen. Ja, er spürte ihre entschwindende Anwesenheit. Er spähte nach oben und konnte sie ohne Mühe ausmachen - ein winziger Federstrich, der sich über eine blasse Wolke hinweg gen Westen bewegte.
    Der Lärm setzte ihm zu - Sirenen, Stimmen, das Knattern des brennenden Hauses, als die letzten Balken einstürzten. Die kleinen, engen Gassen waren überfüllt,, die dröhnende Musik in den anderen Kneipen war nicht unterbrochen worden. Er zog sich zurück, warf noch einen letzten Blick auf die Heimstatt der toten Blutsauger. Ach, er vermochte die Jahrtausende nicht zu zählen, aber der alte Krieg wütete noch immer.
    Stundenlang durchstreifte er die dunklen Seitenstraßen.
    Athen wurde ruhig. Die Leute schliefen hinter Holzwänden. Das Pflaster erglänzte in dem Nebel, der wie dichter Regen aufstieg. Seine Vergangenheit kam ihm wie ein riesiges Schneckenhaus vor, das ihn tonnenschwer zu Boden drückte. Schließlich lenkte er seine Schritte hügelaufwärts und in die kühle, luxuriöse Bar eines großen, modernen Hotels. Ganz in Schwarz und Weiß war diese Stätte gehalten - genau wie er; schachbrettgemusterte Tanzfläche, schwarze Tische, schwarzgepolsterte Lederbänke.
    Unbemerkt sank er auf eine der Bänke nieder, und er ließ die Tränen fließen. Er weinte wie ein kleines Kind, den Kopf auf seinen Arm gebettet.
    Der Wahnsinn bemächtigte sich seiner nicht; aber auch gnädiges Vergessen war ihm nicht vergönnt. Er durchwanderte die Jahrhunderte, suchte alle die Orte wieder auf, die ihm einst vertraut gewesen waren. Er weinte um all jene, die er gekannt und geliebt hatte.
    Aber was ihn am meisten schmerzte, war die würgende Erinnerung an den Anfang, an den wahren Anfang noch vor jenen längst vergangenen Tagen, da er sich mittags in seinem Haus am Nil zur Ruhe gelegt hatte, wohl wissend, daß er sich noch in dieser Nacht im Palast einzufinden hatte.
    Der wahre Anfang war ein Jahr früher gewesen, als der König ihm gesagt hatte:
    »Um meiner geliebten Königin willen würde ich mir das Vergnügen dieser beiden Frauen gönnen. Ich würde zeigen, daß man sie nicht fürchten muß, daß sie keine Hexen sind. Du wirst das an meiner Statt tun.«
    Er durchlebte alles noch einmal; ein besorgter Hofstaat hatte sich versammelt, schwarzäugige Männer und Frauen in schmucken Leinengewändern und kunstvollen schwarzen Perücken, einige hinter den geschnitzten Säulen verborgen, andere in stolzer Nähe des Thrones. Und die rothaarigen Zwillinge standen vor ihm, seine schönen Gefangenen, die zu lieben er gezwungen war. Ich kann es nicht  tun. Aber er tat es. Während der Hofstaat wartete, während der König und die Königin warteten, hatte er des Königs Halskette mit dem goldenen Medaillon angelegt, um an der Stelle des Königs zu handeln. Und er war die Stufen des Podiums hinabgestiegen, während die Zwillinge ihn anstarrten, und er hatte sie eine nach der anderen geschändet.
    Dieser Schmerz konnte nicht ewig währen.
    Er wäre in den tiefsten Schoß der Erde gekrochen, wenn er die Kraft dazu aufgebracht hätte. Nichts sehnlicher wünschte er sich, als all das aus seinem Gedächtnis zu löschen. Gehe nach Delphi, durchwandere das hohe, duftend egrüne  Gras.

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