Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
nach Europa und in die Neue Welt! Und dies hätte das Schaubild jeder menschlichen Familie sein können!
Später sah sie sich nie mehr in der Lage, die Einzelheiten jener elektronischen Karte heraufzubeschwören. Maharet hatte ihr ja gesagt, daß sie alles vergessen würde. Das Wunder war, daß sie sich überhaupt noch an etwas erinnerte. Aber was war sonst noch geschehen? Was war der Kernpunkt ihres langen Gespräches gewesen?
Maharet weinte, daran erinnerte sie sich. Maharet schluchzte wie ein junges Mädchen und war verführerischer denn je; ihre Gesichtszüge waren so weich und verschwommen, daß Jesse sie kaum noch wahrnehmen konnte. Ihr Gesicht brannte wie weiße Glut in der Dunkelheit, die grünen Augen leuchteten durch den Tränenschleier, und die blonden Wimpern erschienen wie von Gold durchwirkt. Kerzenlicht durchschimmerte das Zimmer. Hinter dem Fenster ragte der Wald empor. Jesse hatte ihr widersprochen, sie flehentlich zu beruhigen versucht. Aber worum, um Himmels willen, war es eigentlich gegangen?
D U wirst alles vergessen. Du wirst dich an nichts erinnern.
Als die Sonne wieder schien und sie die Augen öffnete, wußte sie, daß alles vorbei war; sie waren fort. Ihr Kopf war wie leergefegt, sie ahnte nur, daß etwas Endgültiges gesagt worden war. Dann entdeckte sie einen Brief auf ihrem Nachttisch:
Mein Liebling,
es ist wohl besser für Dich, wenn Du uns nun verläßt. Ich fürchte, daß wir uns im Laufe der Zeit derart in Dich vernarrt haben, daß wir Dich nur noch mehr verwirren und von Deinen eigentlichen Aufgaben abhalten würden.
Bitte verzeih uns, daß wir so plötzlich abgereist sind. Damit wollen wir nur Dein Bestes. Das Auto wird Dich zum Flughafen bringen. Dein Flugzeug startet um vier Uhr. Maria und Matthew werden Dich in New York abholen.
Sei versichert, daß ich Dich mehr liebe, als Worte es ausdrücken können. Wenn Du zu Hause ankommst, wird Dich ein Brief von mir erwarten. In ferner Zukunft werden wir wohl mal wieder eine Nacht zusammen verbringen, um über die Familiengeschichten zu sprechen. Du konntest mir bei der Aufarbeitung dieser Dokumente helfen, falls Du das überhaupt noch willst. Aber im Moment darf Dich das nicht zu sehr in Anspruch nehmen. Es darf Dich nicht vom Leben selbst ablenken.
In treuer Liebe Deine Maharet
Jesse hatte Maharet nie wiedergesehen.
In gewohnter Regelmäßigkeit trafen ihre herzlichen, besorgten Briefe ein, um ihr Ratschläge zu erteilen. Aber es kam zu keinem Besuch mehr. Jesse wurde nicht mehr eingeladen.
Während der folgenden Monate wurde Jesse mit Geschenken geradezu überschüttet - ein schönes altes Reihenhaus am Washington Square in Greenwich Village, ein neues Auto, eine beachtliche Aufstockung der finanziellen Zuwendungen und die üblichen Flugtickets, um Familienmitglieder in der ganzen Welt besuchen zu können.
Schließlich übernahm Maharet auch noch die Kosten für Jesses archäologische Arbeit in Jericho. Die Jahre zogen ins Land, und sie schenkte Jesse alles, was ihr Herz begehrte.
Dennoch, dieser Sommer hatte Jesse gezeichnet. Einmal hatte sie in Damaskus von Mael geträumt, und als sie aufwachte, mußte sie weinen.
Sie war in London, arbeitete im Britischen Museum, da stürzten die Erinnerungen wieder mit voller Wucht auf sie ein. Was derlei auslöste, wußte sie nie. Vielleicht war Maharets Warnung - du wirst das alles vergessen - einfach verblaßt. Aber es kamen noch andere Gründe in Betracht. Eines Abends hatte sie auf dem Trafalgar Square Mael gesehen oder einen Mann, der genau wie er aussah. Der Mann stand in einiger Entfernung und starrte sie an. Aber als sie ihm zuwinkte, drehte er sich um und ging fort. Sie rannte ihm nach, versuchte, ihn einzuholen, doch er war wie vom Erdboden verschwunden.
Sie war gleichermaßen verletzt wie enttäuscht. Drei Tage später freilich erhielt sie ein anonymes Geschenk, ein Armband aus gehämmertem Silber. Wie sie bald herausfand, handelte es sich um ein altes keltisches Fundstück, vermutlich von unschätzbarem Wert. Hatte ihr Mael wohl dieses hübsche und kostbare Angebinde zukommen lassen? Sie wog sich in diesem Glauben.
Wenn sie das Armband fest in ihrer Hand hielt, fühlte sie seine Gegenwart. Sie erinnerte sich der längst vergangenen Nacht, als sie sich über hohlköpfige Geister unterhalten hatten. Sie lächelte. Es war ihr, als sei er da, als hielte er sie und küßte sie. In einem Brief erzählte sie Maharet von dem Geschenk.
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