Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
sang Lieder in der unbekannten Sprache.
Wie war es in solchen Stunden eigentlich um ihren Geisteszustand beschaffen?
Und warum hatte sie es für ganz selbstverständlich hingenommen, daß Mael im Haus ständig Handschuhe und draußen in der Dunkelheit seine Sonnenbrille trug? Dann, eines Morgens, noch lange vor Sonnenaufgang, war Jesse betrunken ins Bett gesunken und hatte einen schrecklichen Traum gehabt.
Mael und Maharet hatten Streit.
Mael sagte immer wieder: »Und was passiert, wenn sie stirbt? Was, wenn sie jemand umbringt oder sie von einem Auto überfahren wird? Was wenn, was wenn, was wenn…« Es schwoll zu einem ohrenbetäubenden Lärm.
Ein paar Nächte später nahm dann die Katastrophe ihren entsetzlichen und endgültigen Lauf. Mael war eine Zeitlang aushäusig gewesen, dann aber zurückgekommen. Sie hatte den ganzen Abend Burgunder getrunken, und sie stand mit ihm auf der Terrasse, und er küßte sie, und sie wurde bewußtlos. Dennoch nahm sie alles wahr. Er hielt sie, küßte ihre Brüste, aber sie versank in unergründliche Finsternis. Dann erschien das Mädchen wieder, jener Teenager, der sie einst in New York aufgesucht hatte. Mael konnte das Mädchen nicht sehen, und natürlich wußte Jesse genau, wer sie war, Jesses Mutter, Miriam, und sie wußte, daß Miriam Angst hatte. Mael ließ plötzlich von Jesse ab. »Wo ist sie?« schrie er wütend.
Jesse öffnete die Augen. Maharet war da. Sie versetzte Mael einen derartig mörderischen Schlag, daß er rückwärts über das Terrassengeländer flog. Und Jesse schrie auf, stieß das junge Mädchen versehentlich zur Seite, als sie entsetzt losrannte, um über das Geländer zu blicken.
Weit unten in der Lichtung stand Mael, unverletzt. Nicht zu glauben, aber wahr.
Er war schon wieder auf den Füßen und verbeugte sich vor Maharet nach höfischer Art. Er stand im Licht, das aus den Fenstern der unteren Räume fiel, und warf Maharet einen Handkuß zu. Maharet sah traurig aus, aber sie lächelte. Sie murmelte etwas vor sich hin und deutete Mael eine wegwerfende Geste an, als wollte sie sagen, daß sie nicht verärgert sei.
Jesse hatte schreckliche Angst, daß Maharet wütend auf sie sein könnte, aber als sie in Maharets Augen blickte, wußte sie, daß sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Dann sah Jesse an sich hinunter und stellte fest, daß ihr Kleid vorne auseinandergerissen war. Ein scharfer Schmerz durchstach sie an der Stelle, wo Mael sie geküßt hatte, und als sie sich Maharet zuwandte, verwirrte sich ihr Geist, war sie unfähig, ihre eigenen Worte zu hören.
Irgendwie kam sie auf ihr Bett zu sitzen. Sie war an Kissen gelehnt und trug ein langes Nachthemd aus Flanell. Sie erzählte Maharet, daß ihre Mutter wiedergekommen war, daß sie sie auf der Terrasse gesehen hatte. Aber das war längst nicht alles, da sie und Maharet sich stundenlang über die ganze Angelegenheit unterhalten hatten. Aber was war die ganze Angelegenheit?
Maharet versicherte ihr, daß sie alles vergessen würde.
Mein Gott, wie verzweifelt hatte sie später versucht, ihr Gedächtnis aufzufrischen. Kleine Erinnerungsfetzen hatten sie ganze Jahre hindurch gequält.
Maharet hatte ihr langes, volles Haar gelöst. Wie Geister waren sie durch das dunkle Haus gewandert, Maharet hielt sie umschlungen, blieb immer wieder stehen, um sie zu küssen und zu umarmen. Maharets Körper fühlte sich wie ein Stein an, der atmen konnte.
Sie befanden sich in einer Geheimkammer hoch im Berg. Überall standen schwere Computer herum, deren Kabel und rote Lämpchen ein leises elektronisches Summen von sich gaben. Und da, auf einem riesigen, rechteckigen Bildschirm, der fast die ganze Wand einnahm, war ein gewaltiger Familienstammbaum in Computerschrift aufgezeichnet. Das war die Große Familie, die sich durch die Jahrtausende zurückerstreckte - zu jener einzigen Wurzel! Der Plan war ganz auf die mütterliche Linie ausgerichtet, wie es der Sitte alter Völker entsprach - bei den Ägyptern etwa, wo nur die Nachkommenschaft der Prinzessinnen des Königshauses zählte.
Beim ersten Augenschein schienen Jesse all die Details völlig klar zu sein - alte Namen, alte Orte, der Ursprung! Gott, wußte sie sogar um die Ursprünge, die schwindelerregende Wirklichkeit Hunderter von Generationen, die sich ihr hier in grafischer Gestaltung darboten?! Sie konnte den Weg der Familie durch die alten Reiche von Kleinasien und Mazedonien und Italien verfolgen, bis hin
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