Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
glauben, fiel ihr nicht schwer. Hexen waren menschliche Wesen, und Gespenster konnten gefügig gemacht werden, wahrscheinlich. Aber Vampire?
»Nun schön«, sagte David. »Ehe Sie sich entscheiden, lassen Sie uns doch in unseren Verliesen etwas betrachten, das mit diesen Kreaturen zu tun hat.«
Ein unwiderstehlicher Gedanke. Unter dem Stammhaus gab es massenweise Räume, zu denen Jesse nie zugelassen worden war. Diese Gelegenheit wollte sie sich nicht entgehen lassen.
Als sie und David die Treppe hinuntergingen, fühlte sie sich wieder an die Atmosphäre des Anwesens in Sonoma erinnert.
Stumm folgte sie David durch die ansonsten verschlossenen Gemächer. Er rührte sie in den letzten Raum, der sehr groß und mit Zinn ausgeschlagen war und sofort in hellem Licht erstrahlte.
Ein riesiges Gemälde hing an der Wand gegenüber der Tür. Renaissance, schätzte sie, wahrscheinlich venezianisch. Eitempera auf Holz. Und es strahlte jenen Schimmer und Glanz aus, den Kunstfarben nie hervorzurufen vermögen. Sie las den lateinischen Titel, der zusammen mit dem Namen des Künstlers in der unteren rechten Ecke stand.
»Die Versuchung des Amadeo«
von Marius
Sie trat zurück, um es sich genauer zu betrachten.
Ein Chor schwarzgeflügelter Engel umringte einen knienden Knaben mit kastanienfarbenem Haar. Durch eine Reihe von Bögen sah man einen kobaltblauen Himmel mit unzähligen vergoldeten Wolken. Der Marmorfußboden vor den Figuren war mit fotografischer Genauigkeit ausgeführt. Man konnte seine Kühle förmlich spüren, die Adern in den Steinplatten sehen.
Aber noch bestechender waren die Figuren des Bildes. Die Gesichter der Engel waren hervorragend gestaltet, ihre pastellfarbenen Gewänder und schwarzen Flügel bis ins kleinste Detail ausgemalt. Und der Knabe, der Knabe lebte schlicht! Seine dunkelbraunen Augen glitzerten, während er einen aus dem Bild anstarrte. Seine Haut schien feucht zu sein. Er war im Begriff, etwas zu sagen.
Es war zu realistisch, um aus der Renaissance stammen zu können. Die Figuren waren weniger idealistisch als individuell ausgeprägt. Der Gesichtsausdruck der Engel schwankte zwischen einem Anflug von Belustigung und Bitterkeit. Und der Stoff der Tunika und der Beinkleider des Knaben war einfach zu genau wiedergegeben. Sie konnte sogar ein paar Stopfstellen sehen, den Staub auf seinem Ärmel. Es gab noch andere solcher Details – hier und da getrocknete Blätter auf dem Fußboden und zwei Pinsel, die aus keinem ersichtlichen Grund an der Seite herumlagen.
»Wer ist dieser Marius?« flüsterte sie. Der Name sagte ihr nichts. Und nie hatte sie ein italienisches Gemälde gesehen, das so viele verwirrende Elemente enthielt. Engel mit schwarzen Flügeln …
David schwieg. Er wies auf den Knaben. »Ich möchte, daß Sie Ihr Augenmerk auf den Knaben richten«, sagte er. »Er ist nicht der eigentliche Gegenstand Ihrer Untersuchung, doch ein sehr wichtiges Bindeglied.«
Gegenstand? Bindeglied… Sie war von dem Bild völlig gefangengenommen. »Sehen Sie die Knochen in der Ecke, menschliche, mit Staub bedeckte Knochen, als hätte sie jemand zur Seite gefegt.
Was um Himmels willen hat das alles zu bedeuten?«
»Ja, seltsam«, murmelte David. »Wenn ein Bild >Versuchung< heißt, sieht man gewöhnlich einen Heiligen, der von Teufeln umgeben ist.«
»Genau«, antwortete sie. »Und es ist von ganz außergewöhnlicher Kunstfertigkeit.« Je länger sie das Bild betrachtete, desto verwirrter wurde sie. »Wo haben Sie das her?«
»Der Orden hat es vor Jahrhunderten erworben«, antwortete David. »Unser Abgesandter in Venedig hat es in einer alten, ausgebrannten Villa am Canale Grande entdeckt. Diese Vampire haben übrigens dauernd etwas mit Feuer zu tun. Es ist eine der wenigen Waffen, die sie wirkungsvoll gegeneinander einsetzen können. Pausenlos brennt es irgendwo. Aber sehen Sie sich den Knaben genau an. Ich möchte mit Ihnen über den Knaben sprechen.«
Amadeo. Das bedeutete »der, den Gott liebt«. Er sah wirklich gut aus, war sechzehn, vielleicht siebzehn Jahre alt, hatte ein viereckiges, kräftig ausgebildetes Gesicht und einen seltsam forschenden Blick.
David hatte ihr etwas gegeben. Widerstrebend wandte sie den Blick von dem Gemälde. Sie hielt ein Foto aus dem späten neunzehnten Jahrhundert in Händen. Und sie flüsterte: »Es ist derselbe Knabe!«
»Ja. Und wohl auch ein Experiment«, sagte David. »Höchstwahrscheinlich ist es kurz nach Sonnenuntergang unter derart
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