Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
sein Wagen fuhr mit leisem Knirschen die Zufahrt hinunter.
Ich fühlte mich so klar im Kopf und so wohl, daß ich hätte weinen mögen. Statt dessen trank ich noch etwas von dem köstlichen Orangensaft und begann, an manches zu denken … mich an manches zu erinnern.
»Ich muß dich für ein Weilchen allein lassen«, sagte Gretchen. »Ich muß etwas zu essen besorgen.«
»Ja, und ich werde dafür bezahlen«, sagte ich und legte meine Hand auf ihr Handgelenk. Obwohl meine Stimme noch schwach und heiser war, erzählte ich ihr von dem Hotel und dem Geld, das dort in meinem Mantel steckte. Es sei genug, um sie für ihre Pflege und für das Essen zu bezahlen, und sie müsse es holen. Der Zimmerschlüssel sei in meinen Sachen, erklärte ich.
Sie hatte meine Kleider auf Bügel gehängt und fand nun den Schlüssel in der Hemdtasche.
»Siehst du?« sagte ich und lachte leise. »Ich habe dir in allem die Wahrheit gesagt.«
Sie lächelte, und ihr Gesicht war voller Wärme. Sie versprach mir, ins Hotel zu gehen und mein Geld zu holen, wenn ich ihr versprechen wollte, still liegenzubleiben. Es sei keine so gute Idee, Geld herumliegen zu lassen, nicht mal in einem erstklassigen Hotel.
Ich wollte antworten, aber ich war so schläfrig. Dann sah ich durch das kleine Fenster, wie sie durch den Schnee auf ihr kleines Auto zuging. Ich sah, wie sie einstieg. Was für eine kräftige Gestalt sie hatte, robuste Glieder, aber eine helle Haut und eine Sanftheit, die ihren Anblick reizvoll machte, so daß man sie gern in den Arm nehmen wollte. Aber ich hatte Angst, weil sie mich verließ.
Als ich die Augen wieder öffnete, stand sie mit meinem Mantel über dem Arm vor mir. Eine Menge Geld, sagte sie, und sie habe alles mitgebracht. Noch nie habe sie so viel Geld auf einmal gesehen, gebündelt und zusammengerollt. Was für ein seltsamer Mensch ich doch sei. Es seien ungefähr achtundzwanzigtausend Dollar. Sie habe meine Hotelrechnung bezahlt. Sie hätten sich dort Sorgen um mich gemacht, denn sie hätten mich durch den Schnee davonlaufen sehen. Gretchen habe die Rechnung für alles abzeichnen müssen. Sie gab mir das Blatt, als sei es wichtig. Sie hatte auch meine anderen Sachen mitgebracht, die Kleider, die ich gekauft hatte und die alle noch in Tüten und Schachteln waren.
Ich wollte ihr danken. Aber wo waren die Worte? Ich würde ihr danken, wenn ich in meinem eigenen Körper wieder zu ihr käme.
Nachdem sie die ganze Garderobe weggeräumt hatte, bereitete sie uns ein einfaches Abendessen aus Brühe und Brot und Butter. Wir aßen das alles mit einer Flasche Wein, von der ich mehr trank, als sie für zulässig hielt. Dieses Brot mit Butter und Wein war ungefähr die beste Menschenspeise, die ich bisher zu kosten bekommen hatte. Das sagte ich ihr, und ich wollte noch etwas Wein, bitte, denn dieses Gefühl der Betrunkenheit war absolut göttlich.
»Warum hast du mich hergebracht?« fragte ich sie.
Sie setzte sich auf die Bettkante, schaute ins Feuer, spielte mit ihren Haaren, schaute mich nicht an. Sie wollte wieder anfangen, etwas vom überfüllten Krankenhaus zu erzählen, von einer Epidemie.
»Nein. Warum hast du es getan? Es waren noch andere da.«
»Weil du anders bist als alle, die ich gekannt habe«, sagte sie. »Du erinnerst mich an eine Geschichte, die ich einmal gelesen habe… von einem Engel, der gezwungen war, in einem menschlichen Körper auf die Erde herabzukommen.«
Jäher Schmerz durchfuhr mich bei dem Gedanken daran, wie Raglan James mir gesagt hatte, ich sähe aus wie ein Engel. Ich dachte an meinen anderen Körper, der die Welt durchstreifte, machtvoll und mit scheußlicher Fracht.
Sie seufzte, als sie mich anschaute; sie war verwirrt.
»Wenn diese Sache erledigt ist, komme ich in meinem richtigen Körper zu dir zurück«, sagte ich. »Ich werde mich dir offenbaren. Vielleicht bedeutet es dir etwas, zu wissen, daß du nicht getäuscht worden bist. Und du bist so stark, daß ich glaube, die Wahrheit wird dir nichts anhaben.«
»Die Wahrheit?«
Ich erklärte ihr, daß wir die Menschen oft in den Wahnsinn trieben, wenn wir uns ihnen offenbarten - denn wir seien unnatürliche Wesen; aber wir wüßten trotzdem nichts über die Existenz Gottes oder des Teufels. Alles in allem wären wir wie eine religiöse Vision ohne Offenbarung. Eine mystische Erfahrung ohne einen Kern von Wahrheit.
Sie war offensichtlich fasziniert. Ein feines Leuchten erwachte in ihren Augen. Ich mußte ihr beschreiben, wie ich in der
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