Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
anderen Gestalt aussah.
Ich erzählte ihr, wie ich mit zwanzig Jahren zum Vampir gemacht worden war. Ich sei groß gewesen für jene Zeit, blond, mit hellen Augen. Ich erzählte ihr noch einmal, wie ich mir in der Wüste Gobi die Haut verbrannt hatte. Ich fürchtete, fuhr ich fort, der Körperdieb wolle meinen Körper für immer behalten; er halte sich wahrscheinlich irgendwo vor dem Rest des Stammes versteckt und bemühe sich, sich in der Beherrschung meiner Kräfte zu vervollkommnen.
Sie wollte, daß ich ihr das Fliegen beschrieb.
»Es ist eigentlich mehr wie ein Schweben; man steigt einfach willkürlich auf -und die bloße Entscheidung treibt einen hierhin und dorthin. Man trotzt der Schwerkraft, ganz anders als natürliche Wesen, wenn sie fliegen. Es ist beängstigend, mehr als jede andere Fähigkeit, die wir haben, und ich glaube, es schadet uns auch mehr als jede andere Fähigkeit. Es erfüllt uns mit Verzweiflung. Es ist der endgültige Beweis dafür, daß wir keine Menschen sind. Vielleicht furchten wir, daß wir eines Nachts die Erde verlassen und nicht wieder zurückkommen.«
Ich stellte mir vor, wie der Körperdieb diese Fähigkeit benutzte. Ich hatte gesehen, wie er es tat.
»Ich weiß nicht, wie ich so töricht sein konnte, ihm einen Körper zu überlassen, der so stark ist wie der meine«, sagte ich. »Ich war geblendet von dem Verlangen, ein Mensch zu sein.«
Sie schaute mich nur an. Sie hatte die Hände vor sich verschränkt und schaute mich mit ihren großen nußbraunen Augen unverwandt an.
»Glaubst du an Gott?« fragte ich und deutete auf das Kruzifix an der Wand. »Glaubst du an diese katholischen Philosophen, deren Bücher da auf dem Regal stehen?«
Sie dachte lange nach. »Nicht so, wie du fragst«, sagte sie dann.
Ich lächelte. »Wie dann?«
»Mein Leben war ein Leben der Aufopferung, solange ich denken kann. Das ist es, woran ich glaube. Ich glaube, daß ich tun muß, was ich kann, um das Elend zu verringern. Das ist alles, was ich tun kann, und es ist gewaltig. Es ist eine große Macht, wie deine Fähigkeit zu fliegen.«
Ich war verblüfft; ich erkannte, daß ich in der Arbeit einer Krankenschwester nichts gesehen hatte, was irgendwie mit Macht zu tun hatte. Aber ich sah deutlich, was sie meinte.
»Zu versuchen, Gott zu erkennen«, sagte sie. »Das kann man auf zweierlei Weise deuten: als Sünde des Hochmuts oder als Versagen der Vorstellungskraft. Aber das Elend erkennen wir alle, wenn wir es sehen. Wir kennen Krankheit, Hunger, Entbehrung. Diese Dinge versuche ich zu verringern. Das ist das Bollwerk meines Glaubens. Aber um dir wahrheitsgemäß zu antworten: Jawohl, ich glaube an Gott und an Christus. Und du auch.«
»Nein, ich nicht«, sagte ich.
»Als du im Fieber lagst, hast du an sie geglaubt. Du hast von Gott und dem Teufel gesprochen, wie ich noch nie jemanden von ihnen habe sprechen hören.«
»Ich habe von ermüdenden theologischen Debatten gesprochen«, behauptete ich.
»Nein, du hast von ihrer Irrelevanz gesprochen.«
»Meinst du?«
»Ja. Du erkennst das Gute, wenn du es siehst. Das hast du gesagt. Ich erkenne es auch, und ich habe mein Leben dem Versuch gewidmet, es zu tun.«
Ich seufzte. »Ja, ich verstehe«, sagte ich. »Wäre ich gestorben, wenn du mich im Krankenhaus gelassen hättest?«
»Vielleicht«, sagte sie. »Ich weiß es ehrlich nicht.«
Es war sehr angenehm, sie nur anzuschauen. Ihr großes Gesicht hatte wenig Konturen und keinerlei elegante aristokratische Schönheit. Aber Schönheit besaß sie im Überfluß. Und die Jahre waren sanft mit ihr umgegangen. Sie war nicht verschlissen von Sorge.
Ich spürte eine zarte, brütende Sinnlichkeit in ihr, eine Sinnlichkeit, der sie selbst nicht vertraute und die sie nicht nährte.
»Erkläre es mir noch einmal«, sagte sie. »Du hast davon gesprochen, daß du ein Rocksänger warst, weil du etwas Gutes tun wolltest? Du wolltest gut sein, indem du ein Symbol des Bösen warst? Erzähl mir ein bißchen mehr darüber.«
Ich willigte ein und erzählte ihr, wie ich es angestellt hatte, wie ich die kleine Band zusammengestellt und sie zu Profis gemacht hatte. Ich berichtete, daß ich gescheitert war, es habe einen Krieg unter unseresgleichen gegeben, ich selbst sei gewaltsam fortgeschleppt worden, und das ganze Debakel habe sich abgespielt, ohne daß das rationale Gewebe der sterblichen Welt auch nur einen Riß bekommen habe. Ich sei in die Unsicherheit und Bedeutungslosigkeit zurückgetrieben worden.
»Es
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