Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Liebe zu Gretchen empfand, weil ich wußte, daß sie mich im Grunde ihres Herzens für wahnsinnig hielt und nur aus diesem Grund geliebt hatte. Sie hatte so etwas wie einen seligen Idioten in mir gesehen, mehr nicht.
Es war erledigt und beendet. Ich hatte keine Ahnung, wo der Körperdieb zu finden war, aber ich mußte ihn finden. Und die Suche konnte erst beginnen, wenn ich wieder ein Vampir wäre, wenn dieser große, kraftvolle Körper mit übernatürlichem Blut vollgepumpt wäre.
So schwach ich auch sein würde, wenn ich nur die Kraft hätte, die Louis mir geben konnte, ich würde doch ungefähr zwanzigmal stärker sein als jetzt und vielleicht imstande, die anderen zu Hilfe zu rufen, denn man konnte ja nicht wissen, was für eine Art Sprößling ich werden würde. Wenn der Körper erst transformiert wäre, hätte ich sicher eine telepathische Stimme. Dann könnte ich Marius um Hilfe bitten oder Armand rufen - oder sogar Gabrielle, jawohl, meine geliebte Gabrielle, denn sie würde nun nicht mehr mein Sproß sein, und sie könnte mich hören, was sie im normalen Plan der Dinge - wenn man eine solche Formulierung benutzen kann - nicht konnte.
Louis saß an seinem Schreibtisch, wo er die ganze Zeit gesessen hatte, selbstverständlich ohne daß ihm die Zugluft und das Prasseln des Regens an den Fensterläden bewußt war; er hatte mir wortlos zugehört und mit einem gepeinigten und zugleich erstaunten Gesichtsausdruck zugeschaut, wie ich aufgestanden und in meiner Erregung auf und ab gegangen war, während ich redete und redete.
»Verurteile mich nicht für meine Dummheit«, beschwor ich ihn. Ich erzählte ihm noch einmal von meinen Qualen in der Wüste Gobi, von meinen seltsamen Diskussionen mit David und von Davids Vision in dem Cafe in Paris. »Ich war in einem Zustand der Verzweiflung, als ich es tat. Du weißt, warum ich es getan habe. Ich brauche es dir nicht zu erklären. Aber jetzt muß es ungeschehen gemacht werden.«
Ich hustete jetzt fast ohne Unterlaß und putzte mir wie besessen die Nase mit diesen jämmerlichen kleinen Papiertaschentüchern.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie absolut widerwärtig es ist, in diesem Körper zu sein«, sagte ich. »Und jetzt tu es bitte schnell, tu es mit deinem ganzen Geschick. Es ist hundert Jahre her, daß du es zuletzt getan hast. Gott sei Dank dafür. Die Kraft ist nicht verwässert. Ich bin soweit. Vorbereitungen sind nicht nötig. Wenn ich meine Gestalt wiederhabe, werde ich ihn in diesen Körper jagen und zu einem Häufchen Asche verbrennen.«
Er antwortete nicht.
Ich erhob mich wieder und ging auf und ab, jetzt aber, um mich warm zu halten und weil eine schreckliche bange Erwartung mich erfaßt hatte. Schließlich würde ich ja jetzt sterben, nicht wahr, und wiedergeboren werden, wie es vor zweihundert Jahren schon einmal geschehen war. Ah, aber ich würde keine Schmerzen leiden. Nein, keine Schmerzen … nur dieses furchtbare Unbehagen, und das war nichts im Vergleich zu dem Schmerz in meiner Brust, den ich jetzt verspürte, oder der Kälte, die knotig in meinen Fingern und Füßen steckte.
»Louis, um der Liebe willen, mach schnell«, bat ich, und ich blieb stehen und sah ihn an. »Was ist denn? Was ist los mit dir?«
Mit sehr leiser und unsicherer Stimme antwortete er: »Ich kann das nicht.«
»Was?«
Ich starrte ihn an und versuchte zu ergründen, was er meinte, was für Zweifel er hegen konnte, welche Schwierigkeiten wir möglicherweise noch beseitigen mußten. Und ich sah, was für eine furchtbare Veränderung über sein schmales Gesicht gekommen war: Alle Glätte war vergangen, und es war eine Maske vollkommener Trauer. Wiederum wurde mir klar, daß ich ihn sah, wie Menschen ihn sahen. Ein mattroter Schimmer verschleierte seine grünen Augen. Ja, seine ganze Gestalt, die scheinbar so robust und kräftig aussah, schien zu zittern.
»Ich kann es nicht tun, Lestat«, sagte er noch einmal, und seine ganze Seele schien in diesen Worten zu liegen. »Ich kann dir nicht helfen!«
»Was im Namen Gottes willst du mir damit sagen?« fragte ich herausfordernd. »Ich habe dich geschaffen! Du existierst hier nur meinetwegen! Du liebst mich - das hast du selbst zu mir gesagt. Natürlich wirst du mir helfen.«
Ich stürzte auf ihn zu, schlug mit beiden Händen auf den Tisch und schaute ihm ins Gesicht.
»Louis, antworte mir! Was soll das heißen, du kannst es nicht tun?«
»Oh, ich werfe dir nicht vor, was du getan hast. Wirklich nicht. Aber siehst du denn
Weitere Kostenlose Bücher