Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
sehr.«
»Ah, aber ich habe Ihnen geschadet. Ich weiß es.« Ich wollte ihm nicht erzählen, wie ich ihm gefolgt war, wie ich das Gespräch zwischen ihm und seinem Kameraden mitangehört hatte, und ich wollte auch nicht ausführlich über das reden, was ich mit eigenen Augen sah.
Ich gelobte, daß ich ihn nicht mit meiner alten Frage peinigen würde. Und doch sah ich den Tod, als ich ihn anschaute, vielleicht um so deutlicher angesichts seiner strahlenden Fröhlichkeit und der Tatkraft in seinem Blick.
Er schaute mich lange und versonnen an; dann zog er seine Hand zurück und wandte sich wieder dem Gemälde zu.
»Gibt es Vampire auf der Welt mit solchen Gesichtern?« fragte er und deutete auf die Männer, die von der Leinwand auf uns herabschauten. »Ich rede von dem Wissen und der Erkenntnis hinter diesen Gesichtern. Ich spreche von etwas, das deutlicher auf Unsterblichkeit hinweist als ein übernatürlicher Körper, der anatomisch darauf angewiesen ist, Menschenblut zu trinken.«
»Vampire mit solchen Gesichtern?« antwortete ich. »David, das ist unfair. Es gibt keine Menschen mit solchen Gesichtern. Es hat sie nie gegeben. Schauen Sie sich irgendeines von Rembrandts Bildern an. Es ist absurd, zu glauben, daß es solche Leute je gegeben hat, geschweige denn, daß Amsterdam zu Rembrandts Zeiten voll davon war, daß jeder Mann, jede Frau, die über seine Schwelle trat, ein Engel war. Nein, es ist Rembrandt, den Sie in diesen Gesichtern sehen, und Rembrandt ist natürlich unsterblich.«
Er lächelte. »Es stimmt nicht, was Sie sagen. Und was für eine verzweifelte Einsamkeit Sie ausstrahlen. Begreifen Sie nicht, daß ich Ihr Geschenk nicht akzeptieren kann - und wenn ich es täte, was würden Sie dann von mir denken? Würden Sie sich immer noch nach meiner Gesellschaft sehnen? Und ich mich nach Ihrer?«
Ich hörte seine letzten Worte kaum. Ich starrte das Bild an, starrte die Männer an, die wirklich aussahen wie Engel. Stiller Zorn war über mich gekommen, und ich wollte nicht länger dableiben. Ich hatte mir den Angriff versagt, und er hatte sich trotzdem gegen mich verteidigt. Nein, ich hätte nicht herkommen sollen.
Ihn bespitzeln, ja, aber nicht bei ihm verweilen. Und wieder entfernte ich mich blitzartig.
Er war deshalb wütend auf mich. Ich hörte seine Stimme, wie sie durch den großen, leeren Saal hallte.
»Es ist unfair von Ihnen, so zu verschwinden! Regelrecht grob! Haben Sie keine Ehre? Und was ist mit Manieren, wenn keine Ehre mehr vorhanden ist?« Und dann brach er ab, denn ich war nicht mehr in seiner Nähe; es war, als sei ich verschwunden, und er war ein Mann, der allein in dem großen, kalten Museum saß und laut mit sich selbst sprach.
Ich schämte mich, aber ich war zu wütend und zu verletzt, um zu ihm zurückzukehren - obwohl ich nicht einmal wußte, warum. Was hatte ich diesem Wesen angetan! Wie würde Marius schimpfen.
Stundenlang wanderte ich in Amsterdam umher; ich stahl Schreibpapier aus dickem Pergament von der Sorte, die ich am liebsten habe, und einen Stift mit feiner Spitze, einen von der automatischen Sorte, die eine nie versiegende schwarze Tinte absondern. Dann suchte ich mir eine laute, düstere kleine Kneipe im alten Rotlichtbezirk mit den bemalten Frauen und den drogensüchtigen jungen Streunern, wo ich einen Brief an David schreiben könnte, unbemerkt und ungestört, solange ein Glas Bier neben mir stände.
Ich wußte von einem Satz zum ändern nicht, was ich schreiben sollte; aber ich mußte ihm auf irgendeine Art sagen, daß mir mein Benehmen leid tat und daß irgend etwas in meiner Seele zerrissen war, als ich die Männer auf Rembrandts Porträt gesehen hatte, und so schrieb ich hastig und beinahe getrieben eine Art Geschichte.
Sie haben recht. Es war schändlich, wie ich Sie verlassen habe. Schlimmer, es war feige. Ich verspreche Ihnen, wenn wir uns wiedersehen, lasse ich Sie alles sagen, was Sie zu sagen haben.
Ich selbst habe eine Theorie über Rembrandt. Ich habe viele Stunden damit zugebracht, seine Bilder zu studieren - überall, in Amsterdam, Chicago, New York, und wo ich sie sonst finde -, und wie ich Ihnen schon gesagt habe, glaube ich nicht, daß so viele große Seelen existiert haben können, wie Rembrandts Gemälde uns das glauben machen wollen.
Meine Theorie lautet folgendermaßen - und wenn Sie sie lesen, bedenken Sie bitte, daß sie sämtliche zugehörigen Elemente berücksichtigt. Eine derartige Berücksichtigung pflegte das Maß für die
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