Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
zurück, obwohl sie keinen Schritt tat.
»Nein, Gretchen. Sieh mich nicht an, als ob du mich fürchtest oder verachtest. Was habe ich dir getan, daß du mich so ansiehst? Du kennst meine Stimme. Du weißt, was du für mich getan hast. Ich bin gekommen, um dir zu danken -«
»Lügner!«
»Nein, du hast recht. Ich bin gekommen, weil ich … weil ich dich wiedersehen wollte.«
Lieber Gott, weinte ich etwa? Waren meine Emotionen jetzt ebenso unbeständig wie meine Kräfte? Gleich würde sie sehen, wie mir das Blut übers Gesicht rann, und dann würde sie noch mehr Angst bekommen. Ich ertrug den Ausdruck in ihren Augen nicht.
Ich wandte mich ab und starrte die Kerze an. Ich ließ meinen unsichtbaren Willen auf den Docht niederfahren und sah, wie die Flamme aufsprang, eine kleine gelbe Zunge. Mon dieu, das gleiche Schattenspiel an der Wand. Sie schnappte nach Luft, als sie es sah, und schaute mich wieder an, als das Kerzenlicht sich um uns ausbreitete; zum erstenmal sah sie ganz deutlich und unverkennbar die Augen, die fest auf sie gerichtet waren, das Haar, das dieses Gesicht umrahmte, die schimmernden Fingernägel an meinen Händen, die weißen Zähne, vielleicht gerade noch sichtbar hinter meinen geöffneten Lippen.
»Gretchen, hab keine Angst vor mir. Im Namen der Wahrheit, sieh mich an. Ich mußte dir versprechen, daß ich kommen würde. Gretchen, ich habe dich nicht belogen. Du hast mich gerettet. Ich bin hier, und es gibt keinen Gott, Gretchen, das hast du mir gesagt. Bei jemand anders hätte es nichts bedeutet, aber du hast es selbst gesagt.«
Sie hob die Hände an die Lippen und wich zurück, und die kleine Kette fiel herunter, so daß ich das goldene Kreuz im Kerzenschein sehen konnte. Oh, Gott sei Dank, es war ein Kreuz, kein Medaillon! Sie wich wieder einen Schritt zurück; sie konnte diese impulsive Bewegung nicht verhindern.
Sie sprach in leisem, stockendem Flüsterton.
»Hebe dich von mir, unreiner Geist! Verschwinde aus diesem Haus Gottes!«
»Ich werde dir nichts tun!«
»Geh weg von diesen Kleinen!«
»Gretchen. Ich will auch den Kindern nichts tun.«
»Im Namen Gottes, hebe dich von mir… geh.« Ihre rechte Hand tastete wieder nach dem Kreuz, und dann hielt sie es mir entgegen; ihr Gesicht war gerötet, ihre Lippen waren feucht und schlaff, und sie zitterten in ihrer Hysterie, und ihre Augen waren ohne alle Vernunft, als sie weiterredete. Ich sah, daß an ihrem Kreuz der winzige, verrenkte Leichnam des toten Christus hing.
»Verlasse dieses Haus. Gott selbst beschützt es. Er beschützt die Kinder. Geh.«
»Im Namen der Wahrheit, Gretchen.« Meine Stimme war so leise wie ihre und voller Bewegung. »Ich habe mit dir geschlafen! Ich bin hier.«
»Lügner!« zischte sie. »Lügner!« Sie zitterte so heftig, daß es schien, als werde sie gleich zusammenbrechen und hinfallen.
»Nein, es ist die Wahrheit. Wenn nichts anderes wahr ist, so doch das. Gretchen, ich werde den Kindern nichts tun. Und ich werde dir nichts tun.«
Im nächsten Augenblick würde sie zweifellos vollends den Verstand verlieren; hilflose Schreie würden aus ihr hervorbrechen, und ‘die ganze Nacht dort draußen würde sie hören. Jede arme Seele auf dem Gelände würde herauskommen und sich um sie kümmern, ja, vielleicht ihren Schrei aufnehmen.
Aber sie blieb stehen, am ganzen Leibe zitternd, und nur ein trockenes Schluchzen kam plötzlich aus ihrem offenen Mund.
»Gretchen, ich gehe jetzt. Ich verlasse dich, wenn du es wirklich willst. Aber ich habe das Versprechen gehalten, das ich dir gegeben habe! Kann ich denn sonst nichts tun?«
Ein leises Rufen kam aus einem der Betten hinter ihr und dann ein Stöhnen aus einem anderen, und sie drehte den Kopf panisch in diese und in jene Richtung.
Dann stürzte sie auf mich zu, an mir vorbei und durch das kleine Büro, daß die Papiere vom Schreibtisch wirbelten, als sie daran vorbeistreifte. Die Fliegentür klappte laut hinter ihr zu, als sie in die Nacht hinausrannte.
Wie benommen hörte ich ihr fernes Schluchzen.
Ich sah, wie der Regen fiel, ein dünner, lautloser Dunst. Ich sah sie, weit drüben auf der Lichtung schon, wie sie auf die Tür der Kapelle zurannte.
Ich habe dir gesagt, du wirst ihr weh tun.
Ich drehte mich um und schaute durch die schattendunkle Krankenstation.
»Du bist nicht hier. Ich bin fertig mit dir!« wisperte ich.
Im Licht der Kerze war sie deutlich zu sehen, obwohl sie am anderen Ende des Raumes saß. Sie ließ noch immer das weißbestrumpfte
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