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Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Titel: Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Wunder!« und »Stigmata!« Sie machten Kreuzzeichen und fielen rings um sie herum auf die Knie, und derweil kamen die Gebete weiterhin in dumpfem, tranceartigem Ton aus ihrem Mund.
    »Und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort, und das Wort ist Fleisch geworden.«
    »Leb wohl, Gretchen«, flüsterte ich.
    Und dann war ich fort, frei und allein in der warmen Umarmung der wilden Nacht.

Fünfundzwanzig
    I ch hätte noch in der Nacht nach Miami fliegen sollen. Ich wußte, l David würde mich vielleicht brauchen. Und natürlich hatte ich keine Ahnung, wo James sein mochte.
    Aber ich hatte nicht den Mut dazu - ich war viel zu erschüttert -, und bevor der Morgen kam, fand ich mich weit östlich des kleinen Französisch-Guyana, aber immer noch in diesem hungrigen, endlosen Urwald. Ich hatte Durst, aber keine Hoffnung, ihn zu stillen.
    Etwa eine Stunde vor dem Morgengrauen stieß ich auf einen uralten Tempel - ein großes Rechteck aus zernarbten Steinen, so sehr von Lianen und anderem verfilzten Blattwerk überwuchert, daß er für Sterbliche vielleicht überhaupt unsichtbar war, selbst wenn sie nur wenige Schritte davon entfernt vorüberkämen. Aber es gab keine Straße oder wenigstens einen Pfad durch diesen Teil des Dschungels, und ich spürte, daß hier seit Jahrhunderten niemand mehr vorbeigekommen war. Dieser Ort war mein Geheimnis.
    Das heißt, abgesehen von den Affen, die mit dem aufkommenden Licht erwachten.
    Ein ganzer Stamm belagerte das roh behauene Bauwerk; jauchzend und kreischend schwärmten sie über das langgestreckte flache Dach und die schräg abfallenden Seiten. Stumpf und unbeteiligt, ja, lächelnd beobachtete ich sie, wie sie umhertollten. Überhaupt war der ganze Dschungel wie neu geboren. Der Chor der Vögel war viel lauter als in den Stunden der Dunkelheit, und als der Himmel fahl wurde, sah ich Myriaden von Grüntönen ringsumher. Und erschrocken begriff ich, daß ich die Sonne nicht sehen würde.
    Es überraschte mich ein wenig, wie dumm ich in dieser Hinsicht gewesen war. Aber wir sind Gewohnheitstiere. Ah, aber war dieses frühe Licht nicht genug? Und es war ein reiner Genuß, wieder in meinem alten Körper zu sein …
    … solange ich nicht an den Ausdruck des puren Abscheus in Gretchens Gesicht dachte.
    Dichter Nebel stieg vom Waldboden auf; er fing dieses köstliche Licht und verstreute es in die feinsten Ritzen und Spalten unter den bebenden Blüten und Blättern.
    Meine Trauer vertiefte sich, als ich mich umsah; zutreffender gesagt, ich fühlte mich wund, als wäre ich bei lebendigem Leib gehäutet worden. »Trauer« ist ein zu mildes, süßes Wort. Wieder und wieder dachte ich an Gretchen, aber nur in wortlosen Bildern. Und bei dem Gedanken an Claudia empfand ich Taubheit, die stille, unerbittliche Erinnerung an die Worte, die ich in meinen Fieberträumen zu ihr gesprochen hatte.
    Wie in einem Alptraum: der alte Arzt mit dem fleckigen Schnurrbart. Das Puppenkind auf dem Stuhl. Nein, nicht da. Nicht da. Nicht da.
    Und was machte es schon, wenn doch? Gar nichts.
    Jenseits dieser tiefen, entnervenden Empfindungen war ich nicht unglücklich; und daß ich mir dessen bewußt war, daß ich es wirklich wußte, war vielleicht etwas Wunderbares. Ah ja, ich war wieder der alte.
    Ich mußte David alles über den Dschungel erzählen! David mußte nach Rio kommen, bevor er nach England zurückkehrte. Vielleicht würde ich mitkommen.
    Vielleicht.
    Ich fand zwei Eingänge in den Tempel. Der erste war mit schweren, unregelmäßigen Steinblöcken versperrt. Aber der zweite war offen, denn die Steine waren längst zu einem formlosen Haufen zerbröckelt. Ich kletterte darüber hinweg und stieg eine lange Treppe hinunter; etliche Tunnel führten mich schließlich in Kammern, in die kein Lichtstrahl drang. In einer davon, kühl und weit weg von den Geräuschen des Dschungels, legte ich mich zum Schlafen hin.
    Kleine, kriechende Wesen hausten hier. Als mein Gesicht den klammen, kühlen Boden berührte, fühlte ich ihre Bewegungen an meinen Fingerspitzen. Ich hörte sie rascheln. Und dann glitt das schwere, seidige Gewicht einer Schlange über meinen Fußknöchel. All das ließ mich lächeln.
    Wie wäre mein sterblicher Körper bebend zurückgezuckt! Aber meine sterblichen Augen hätten auch nie bis in diese tiefe Kammer blicken können.
    Ich fing plötzlich an zu zittern und leise zu weinen, als ich wieder an Gretchen dachte. Ich wußte, ich würde niemals wieder von Claudia träumen.
    »Was wolltest du

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