Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
ihm zu, und er schlenderte davon.
In der feinen Dunkelheit blieb sie stehen. Wie schön war ihr welliges Haar, das aus der glatten Stirn nach hinten gebunden war, und ihre großen, fest blickenden Augen. Sie sah meine Schuhe, bevor sie mich sah. War sich plötzlich des Fremden bewußt, der fahlen, lautlosen Gestalt - nicht einmal ein Atemhauch kommt von ihr - in der absoluten Stille der Nacht, hier, wo er nicht hingehört.
Der Arzt war verschwunden. Es war, als hätten die Schatten ihn verschluckt, aber er war sicher noch irgendwo da draußen im Dunkeln.
Ich stand vor dem Licht, das aus dem Büro kam. Ihr Geruch war überwältigend Blut und der reine Duft eines lebendigen Wesens. Gott, sie mit diesen Augen zu sehen… die glitzernde Schönheit ihrer Wangen. Aber ich verdeckte das Licht, nicht wahr, denn die Tür war sehr klein. Konnte sie meine Züge deutlich genug sehen? Konnte sie die gespenstische, unnatürliche Farbe meiner Augen sehen?
»Wer sind Sie?« Es war ein leises, wachsames Flüstern. Sie stand weit entfernt vor mir, gestrandet im Gang, und schaute mich unter dunklen, zusammengezogenen Brauen an.
»Gretchen«, sagte ich, »ich bin Lestat. Ich bin gekommen, wie ich es dir versprochen habe.«
Nichts regte sich in der langen, schmalen Krankenstation. Die Betten sahen wie gefroren aus hinter ihren Schleiern aus Moskitonetzen. Aber Licht bewegte sich in den funkelnden Flüssigkeitsbeuteln wie zahllose kleine Silberlampen, die in der dumpfen, engen Dunkelheit glommen. Ich hörte das leise, gleichmäßige Atmen der schlafenden kleinen Körper. Und ein dumpfes, rhythmisches Geräusch, wie wenn ein Kind spielerisch immer wieder mit der Ferse gegen ein Stuhlbein schlägt.
Langsam hob Gretchen die rechte Hand und legte die Finger instinktiv schützend vor die Brust, an den Halsansatz. Ihr Puls schlug schneller. Ich sah, wie ihre Finger sich um etwas schlössen, ein Medaillon vielleicht, und dann sah ich das Licht, das an der dünnen Goldkette blinkte.
»Was hast du da am Hals?«
»Wer sind Sie?« fragte sie; ihr Flüstern schürfte rauh über den Grund, und ihre Lippen zitterten. Der matte Lichtschein aus dem Büro hinter mir fing sich in ihren Augen. Sie starrte mir ins Gesicht, auf die Hände.
»Ich bin’s, Gretchen. Ich werde dir nichts tun. Es wäre das letzte, was ich mir vorstellen kann: dir etwas zu tun. Ich bin gekommen, weil ich dir versprochen habe zu kommen.«
»Ich … ich glaube Ihnen nicht.« Sie wich zurück auf dem Holzfußboden, und ihre Gummisohlen machten kaum ein Geräusch.
»Gretchen, hab keine Angst vor mir. Ich wollte, daß du weißt, es ist wahr, was ich dir erzählt habe.« Ich sprach so leise. Konnte sie mich überhaupt hören?
Ich sah, wie sie sich mühte, klar zu sehen, wie ich mich noch vor wenigen Augenblicken selbst um klaren Blick bemüht hatte. Ihr Herz hämmerte wie wild, und ihre Brüste bewegten sich wunderschön unter dem steifen weißen Baumwollstoff. Sattes Blut stieg ihr plötzlich ins Gesicht.
»Ich bin hier, Gretchen. Ich bin gekommen, um dir zu danken. Hier, ich will dir das hier für deine Mission geben.«
Blöde schob ich die Hände in die Taschen und zog den Zaster des Körperdiebes hervor; dicke Bündel hielt ich ihr hin, und meine Finger zitterten wie ihre. Das Geld sah dreckig und töricht aus, wie Abfall.
»Nimm es, Gretchen. Hier. Es wird den Kindern helfen.« Ich drehte mich um und sah wieder die Kerze - dieselbe Kerze! Wieso die Kerze? Ich legte das Geld daneben und hörte die Fußbodenbretter unter meinem Gewicht knarren, als ich an den kleinen Tisch trat.
Dann drehte ich mich zu ihr um, und sie kam auf mich zu, furchtsam und mit weit aufgerissenen Augen.
»Wer sind Sie?« flüsterte sie zum drittenmal. Wie groß ihre Augen waren, wie dunkel die Pupillen, und ihr Blick tanzte über mich hinweg wie Finger, die sich zu etwas hingezogen fühlen, was sie verbrennen könnte. »Ich bitte Sie noch einmal, mir die Wahrheit zu sagen!«
»Lestat, den du in deinem eigenen Haus gesund gepflegt hast, Gretchen. Gretchen, ich habe meine wahre Gestalt wiederbekommen. Ich bin gekommen, weil ich es dir versprochen habe.«
Ich konnte es kaum ertragen; mein alter Zorn flammte auf, als ihre Angst intensiver wurde, als ihre Schultern sich versteiften und ihre Arme sich verschränkten, als die Hand, die ihre Halskette umfaßt hielt, zu zittern begann.
»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte sie in ihrem erstickten Flüsterton, und ihr ganzer Körper wich vor mir
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