Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Bein baumeln, und der Absatz ihres schwarzen Schuhs schlug gegen das Stuhlbein.
»Geh weg«, sagte ich, so sanft ich konnte. »Es ist vorbei.«
Und wirklich liefen mir Tränen übers Gesicht, blutige Tränen. Hatte Gretchen sie gesehen?
Sie schien zu lächeln, aber sie lächelte nicht. Ihr Gesicht wurde zum Inbild der Unschuld, das Gesicht des Traummedaillons. Und während ich wie gebannt in dieser Stille stand und sie anschaute, blieb das ganze Bild vor mir stehen und bewegte sich nicht mehr. Dann löste es sich auf.
Ich sah nur einen leeren Stuhl.
Langsam wandte ich mich wieder zur Tür. Ich wischte mir die verhaßten Tränen ab und steckte das Taschentuch ein.
Fliegen summten am Gitter der Tür. Wie klar der Regen war, der jetzt auf die Erde prasselte. Mit einem sanft anschwellenden Rauschen fiel der Regen immer heftiger, als habe der Himmel langsam den Mund geöffnet und geseufzt. Etwas vergessen. Was? Die Kerze, ah, die Kerze ausblasen, damit hier kein Feuer ausbricht und den zarten Kleinen etwas passiert!
Und sieh doch, dort am Ende - das kleine blonde Kind im Sauerstoffzelt; die faltige Plastikplane blitzt, als bestehe sie aus kleinen Lichtstückchen. Wie konntest du so dumm sein, in diesem Raum eine offene Flamme anzuzünden?
Ich drückte die Flamme mit den Fingern aus. Dann leerte ich alle meine Taschen und legte die schmutzigen, zusammengerollten Scheine hin, viele hundert Dollar, und das bißchen Kleingeld, das ich fand, legte ich dazu.
Ich trat ins Freie und ging langsam an der offenen Tür der Kapelle vorbei. Durch das leise Rauschen hörte ich sie beten, in gedämpftem, hastigem Flüstern, und dann sah ich sie durch den offenen Eingang; sie kniete vor dem Altar, und das rötliche Feuer einer Kerze flackerte hinter ihr. Sie hatte die Arme ausgebreitet wie eine Gekreuzigte.
Ich wollte weg. In den Tiefen meiner verwundeten Seele schien es, als ob ich nichts so sehr wollte wie das. Aber wieder hielt mich etwas fest. Ich hatte den scharfen, unverwechselbaren Geruch von frischem Blut gewittert.
Er kam aus der Kapelle, und es war nicht das Blut, das in ihr pumpte, es war das Blut, das kräftig aus einer frischen Wunde nach außen strömte.
Ich kam näher, immer darauf bedacht, nicht das leiseste Geräusch zu machen, bis ich in der Kapellentür stand. Der Geruch wurde stärker. Und dann sah ich das Blut; es tropfte von ihren ausgestreckten Händen. Ich sah es auf dem Boden, wo es in kleinen Rinnsalen von ihren Füßen rieselte.
»Erlöse mich von dem Bösen, o Herr, nimm mich zu Dir, Heiliges Herz Jesu, und umfange mich mit Deinen Armen …«
Sie sah und hörte mich nicht, als ich näher kam. Ein milder Glanz erfüllte ihr Gesicht, teils das Licht der Kerze, teils ein Strahlen, das von innen kam, von der großen, alles verzehrenden Verzückung, die sie erfaßt hatte und sie aus ihrer Umgebung entrückt hatte, auch von der dunklen Gestalt an ihrer Seite.
Ich schaute zum Altar. Ich sah das riesige Kruzifix, das hoch darüber hing, und darunter das kleine, schimmernde Tabernakel und die brennende Kerze auf dem Grund eines roten Glases, die bedeutete, daß das heilige Sakrament anwesend war. Ein Windstoß bewegte die offene Tür; er erfaßte die Glocke dort oben, und ein schwaches, blechernes Klingen ertönte, kaum hörbar im Säuseln des Windes.
Ich schaute sie wieder an, ihr aufwärts gewandtes Gesicht mit den blicklosen, halb geschlossenen Augen, ihren Mund, der vollends erschlafft war, obwohl die Worte immer noch über ihre Lippen kamen.
»Christus, mein geliebter Christus, nimm mich auf in Deine Arme.«
Und durch den Nebel meiner Tränen sah ich das Blut, das aus den geöffneten Handflächen quoll und floß, rot und dick und reichlich.
Gedämpfte Stimmen hallten über das Gelände. Türen öffneten und schlössen sich. Ich hörte, wie die Leute über den festgestampften Boden liefen. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß dunkle Schatten sich im Eingang versammelt hatten, eine ganze Schar von bangen weiblichen Gestalten. Ich hörte ein geflüstertes französisches Wort, das »Fremder« bedeutete, und dann den erstickten Aufschrei:
»Teufel!«
Ich ging den Gang hinunter, geradewegs auf sie zu, zwang sie vielleicht, auseinanderzustieben, obgleich ich sie nicht anrührte oder anschaute; ich eilte an ihnen vorbei und hinaus in den Regen.
Dann drehte ich mich noch einmal um. Sie kniete noch immer da, als die anderen sie umdrängten, und ich hörte die leisen, ehrfürchtigen Ausrufe. »Ein
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