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Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Titel: Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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nicht, weshalb. Ich sah das hübsche junge Gesicht mit all den stillen Attributen des Wissens; warum mußte ich mir dieses Bild ansehen? Aber ich sah es mir an, denn das wollte er offensichtlich, und da sah ich - unter dem neuen Gesicht - den alten Namen.
    David Talbot.
    Er hatte seinen eigenen Namen für das gefälschte Dokument benutzt, als ob…
    »Ja«, sagte er. »Als ob ich gewußt hätte, daß ich nie, nie wieder der alte David Talbot sein würde.«
     
    Der verstorbene Mr. Talbot war noch nicht in die Pathologie gebracht worden, denn ein guter Freund aus New Orleans war unterwegs - ein Mann namens Aaron Lightner, der mit einem Charterflugzeug herkam und bald eintreffen mußte.
    Der Leichnam lag in einem kleinen, makellosen Raum. Ein alter Mann mit vollem, dunkelgrauem Haar, reglos, als ob er schlafe; der große Kopf ruhte auf einem schlichten Kissen, und die Arme lagen ausgestreckt neben dem Oberkörper. Die Wangen waren bereits ein bißchen eingefallen, so daß das Gesicht länger wirkte, und die Nase sah im gelben Lampenlicht ein wenig schärfer aus, als sie wirklich war, und hart, als sei sie nicht aus Knorpel, sondern aus Knochen.
    Sie hatten ihm den Leinenanzug ausgezogen, ihn gewaschen und gekämmt und mit einem einfachen Baumwollhemd bekleidet. Er war zugedeckt; der Saum eines blaßblauen Lakens bedeckte den Rand der weißen Decke, und das Laken lag makellos glatt über der Brust. Die Lider schmiegten sich zu eng an die Augäpfel, als werde die Haut bereits dünner, ja, als schmelze sie. Für die scharfen Sinne eines Vampirs verströmte er bereits den Duft des Todes.
    Aber David würde diesen Geruch nicht kennen und auch nicht wahrnehmen. Er stand an der Bettkante und schaute auf den Leichnam hinunter, auf sein eigenes regloses Gesicht mit der leicht gelblichen Haut; die Bartstoppeln sahen irgendwie aus wie eine schmutzige Kruste und wirkten ungepflegt. Mit unsicherer Hand berührte er sein graues Haar, und seine Finger verweilten bei den gelockten Strähnen über dem rechten Ohr. Dann wich er zurück und stand gesammelt da; er schaute nur, als wohne er einer Bestattung bei und erweise dem Toten die letzte Ehre.
    »Er ist tot«, murmelte er. »Wirklich und wahrhaftig tot.« Er seufzte tief, und sein Blick wanderte über Decke und Wände der kleinen Kammer, über das Fenster mit den zugezogenen Jalousien und über den stumpfen Linoleumfußboden. »Ich spüre kein Leben, nicht in ihm und nicht in seiner Nähe«, sagte er in dem gleichen gedämpften Ton.
    »Nein, da ist nichts mehr«, sagte ich. »Der Verfallsprozeß hat bereits eingesetzt.«
    »Ich dachte, er wäre noch hier!« flüsterte er. »Wie ein bißchen Rauch vielleicht. Ich war sicher, ihn in meiner Nähe zu spüren, wie er sich bemühte, wieder hereinzukommen.«
    »Vielleicht ist er ja hier«, sagte ich, »und kann es nicht. Wie grauenhaft, selbst für ihn.«
    »Nein«, sagte er. »Es ist niemand hier.« Er starrte seinen alten Körper an, als könne er sich nicht davon losreißen.
    Minuten vergingen. Ich beobachtete die kaum wahrnehmbare Anspannung in seinem Gesicht; ein gefühlvoller Ausdruck durchströmte die feine, formbare Haut, und dann glättete sie sich wieder. Hatte er sich jetzt damit abgefunden? Er war für mich so undurchdringlich wie eh und je, und in seinem neuen Körper schien er noch tiefer versunken zu sein, obgleich seine Seele mit einem so feinen Licht hervorschien.
    Wieder seufzte er und wandte sich ab, und zusammen gingen wir hinaus.
    Wir blieben in dem mattbeigen Korridor unter den düsteren, gelblich fluoreszierenden Leuchtstofflampen stehen. Jenseits der dünnen, dunklen Fensterscheibe flackerte und loderte Miami; ein dumpfes Tosen kam von der nahen Autobahn, und die Kaskade der grellen Scheinwerfer kam gefährlich nahe heran, bevor die Straße abschwenkte, sich auf langen, dünnen Betonstelzen emporschwang und entfernte.
    »Dir ist klar, daß du Talbot Manor verloren hast«, sagte ich. »Das Haus hat diesem Mann gehört.«
    »Ja, daran habe ich schon gedacht«, antwortete er teilnahmslos. »Ein Engländer wie ich denkt an so etwas. Und wenn ich mir vorstelle, daß es an diesen öden kleinen Cousin fällt, der nichts Besseres zu tun haben wird, als es nur gleich auf den Markt zu werfen…«
    »Ich werde es dir zurückkaufen.«
    »Das tut vielleicht der Orden. Den größten Teil meines Vermögens erbt er ohnehin.«
    »Sei nicht so sicher. Vielleicht ist nicht einmal die Talamasca dazu bereit! Menschen können zu

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