Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Er klang verzweifelt.
Wie hatte ich diesen Mann verletzt.
Ich schaute den ausgestreckten Tiger mit den prächtigen schwarzen Streifen und dem dunkelorangefarbenen Fell an.
»Das war ein Menschenfresser, nicht wahr?« fragte ich.
Er zögerte, als habe er die Frage nicht ganz verstanden; dann nickte er, als sei er gerade aufgewacht. »Ja.« Er warf einen Blick auf den Tiger und sah mich dann an. »Ich will nicht, daß Sie es tun. Schieben Sie es auf, um der Liebe des Himmels willen. Tun Sie es nicht. Warum ausgerechnet heute nacht?«
Er brachte mich gegen meinen Willen zum Lachen. »Weil heute nacht eine ausgezeichnete Nacht dafür ist«, sagte ich. »Nein, ich gehe.« Und plötzlich erfüllte mich große Heiterkeit, weil mir klargeworden war, daß ich es ernst meinte! Es war nicht bloß eine Laune. Ich hätte es ihm nie gesagt, wenn es nur das gewesen wäre. »Ich habe mir eine Methode ausgedacht. Ich werde so hoch fliegen, wie ich kann, bevor die Sonne über den Horizont steigt. Dann wird es unmöglich sein, Schutz zu finden. Die Wüste dort ist sehr hart.«
Und ich werde im Feuer sterben. Nicht frierend wie auf jenem Berg, als die Wölfe mich umringten. In der Hitze, wie Claudia gestorben war.
»Nein, tun Sie es nicht«, sagte er. Wie ernst er jetzt war, wie überzeugend. Aber es funktionierte nicht.
»Wollen Sie das Blut?« fragte ich. »Es dauert nicht sehr lange. Es schmerzt nur wenig. Ich bin sicher, die anderen werden Ihnen nichts antun. Ich werde Sie so stark machen, daß sie eine höllische Mühe hätten, wenn sie es versuchen wollten.«
Wieder war es ganz so wie bei Magnus, der mich als Waise zurückgelassen hatte, ohne mich auch nur davor zu warnen, daß Armand und sein uralter Zirkel mir nachstellen würden, mich verfluchen und danach trachten würden, meinem neugeborenen Leben ein Ende zu bereiten. Und Magnus hatte gewußt, daß ich siegen würde.
»Lestat, ich will das Blut nicht. Aber ich will, daß Sie hierbleiben. Schauen Sie, nur ein paar Nächte noch. Mehr nicht. Um der Freundschaft willen, Lestat, bleiben Sie jetzt bei mir. Können Sie mir die paar Stunden nicht schenken? Und wenn Sie es dann tun müssen, werde ich Ihnen nicht mehr widersprechen.«
»Wieso?«
Er sah tiefbedrückt aus. Dann sagte er: » Lassen Sie mich mit Ihnen reden, lassen Sie sich von mir umstimmen.«
»Sie haben den Tiger erlegt, als Sie sehr jung waren, nicht wahr? In Indien.« Ich schaute mich unter den anderen Trophäen um. »Ich habe den Tiger in einem Traum gesehen.«
Er gab keine Antwort; er wirkte ängstlich und verblüfft.
»Ich habe Sie verletzt«, sagte ich. »Ich habe Sie tief in Ihre Jugenderinnerungen getrieben. Ich habe Ihnen die Zeit bewußt gemacht, und Sie waren sich ihrer vorher nicht so bewußt.«
Etwas passierte in seinem Gesicht. Ich hatte ihn mit diesen Worten verwundet. Dennoch schüttelte er den Kopf.
»David, nehmen Sie das Blut von mir, bevor ich gehe!« flüsterte ich plötzlich und verzweifelt. »Sie haben nicht einmal mehr ein Jahr. Ich höre es, wenn ich in Ihrer Nähe bin! Ich höre die Schwäche in Ihrem Herzen.«
»Sie wissen das nicht, mein Freund«, sagte er geduldig. »Bleiben Sie hier bei mir. Ich erzähle Ihnen von dem Tiger, von der Zeit in Indien. Ich habe dann in Afrika gejagt und einmal auch am Amazonas. Was für Abenteuer. Ich war damals nicht der muffige Gelehrte, der ich jetzt bin…«
»Ich weiß.« Ich lächelte. Er hatte noch nie so mit mir gesprochen, hatte mir noch nie soviel angeboten. »Es ist zu spät, David«, sagte ich. Wieder sah ich den Traum. Ich sah die dünne goldene Kette an Davids Hals. Hatte der Tiger es auf die Kette abgesehen? Das war nicht plausibel. Was blieb, war das Gefühl von Gefahr.
Ich starrte das Fell der Bestie an. Wie rein die Bösartigkeit in seinem Gesicht war.
»Hat es Spaß gemacht, den Tiger zu töten?« fragte ich.
Er zögerte. Dann zwang er sich zu einer Antwort. »Er war ein Menschenfresser. Er hat Kinder gemordet. Ja, ich vermute, es hat Spaß gemacht.«
Ich lachte leise. »Ach ja, dann haben wir das gemeinsam, ich und der Tiger. Und Claudia wartet auf mich.«
»Das glauben Sie doch nicht im Ernst, oder?«
»Nein. Ich schätze, wenn ich es glauben würde, hätte ich Angst vor dem Sterben.« Ich sah Claudia ganz lebhaft vor mir… ein winziges ovales Porträt auf Porzellan – goldenes Haar, blaue Augen.
Etwas Wildes, Wahres in ihrem Ausdruck, trotz der saccharinsüßen Farben und des ovalen Rahmens. Hatte ich je ein
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