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Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Titel: Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Gobi.
    Vor Äonen, im Saurierzeitalter, wie die Menschen es genannt haben, starben in diesem seltsamen Teil der Welt große Echsen zu Tausenden. Niemand weiß, warum sie herkamen und warum sie zugrunde gingen. War es ein Land mit tropischen Bäumen und dampfenden Seen? Wir wissen es nicht. Alles, was wir hier heute noch haben, ist Wüste und Millionen und Abermillionen von Fossilien, die uns die fragmentarische Geschichte von Riesenreptilien erzählen, bei deren Schritt die Erde zweifellos erbebte.
    Die Wüste Gobi ist folglich ein riesiger Friedhof und ein passender Ort für mich, um der Sonne ins Gesicht zu schauen. Vor Sonnenaufgang lag ich lange im Sand und sammelte meine letzten Gedanken.
    Der Trick bestand darin, bis zu den Grenzen der Atmosphäre aufzusteigen, in den Sonnenaufgang sozusagen. Wenn ich dann das Bewußtsein verlöre, würde ich in der schrecklichen Hitze zu Boden trudeln, und mein Körper würde bei dem tiefen Fall auf dem Wüstenboden zerschellen. Wie könnte er sich dann noch aus eigenem bösen Antrieb eingraben, wie er es vielleicht tun würde, wäre er unversehrt und der Boden weich? Außerdem, wenn der Lichtblitz stark genug wäre, um mich zu verbrennen, nackt und so hoch über der Erde, dann wäre ich vielleicht tot und hinüber, bevor meine Überreste auf dem harten Sandboden aufschlugen.
    Wie man so zu sagen pflegt: In dem Augenblick schien es eine ganz gute Idee zu sein. Es gab nicht viel, was mich hätte abschrecken können. Aber ich fragte mich doch, ob die anderen Unsterblichen wußten, was ich vorhatte, und ob es sie im geringsten interessierte oder nicht. Abschiedsbotschaften hatte ich ihnen jedenfalls nicht geschickt, und ich strahlte auch nicht planlos Bilder dessen aus, was ich zu tun gedachte.
    Endlich kroch die große Wärme der Dämmerung über die Wüste. Ich richtete mich auf die Knie auf, streifte mir die Kleider vom Leib und begann den Aufstieg; schon jetzt brannten mir die Augen von diesem matten Licht.
    Höherund höher stieg ich, trieb mich weit über die Region hinaus, wo mein Körper von sich aus eher anzuhalten und frei zu schweben pflegt. Schließlich konnte ich nicht mehr atmen, denn die Luft wurde sehr dünn, und es erforderte große Anstrengung, mich in dieser Höhe zu halten.
    Dann kam das Licht. So gewaltig, so heiß, so blendend, daß es mir nicht nur als gewaltiges, machtvolles Tosen erschien, sondern auch als Anblick, der mein ganzes Gesichtsfeld erfüllte. Ich sah gelbes und orangefarbenes Feuer, das alles bedeckte. Ich blickte starr hinein, obwohl es war, als werde mir kochendes Wasser in die Augen gegossen. Ich glaube, ich öffnete den Mund, um es zu schlucken, dieses göttliche Feuer! Die Sonne gehörte plötzlich mir. Ich sah sie, ich griff nach ihr. Und dann bedeckte das Licht mich wie geschmolzenes Blei, es lahmte und quälte mich über alles Maß des Erträglichen, und meine eigenen Schreie erfüllten meine Ohren. Und immer noch wollte ich nicht wegschauen, immer noch nicht fallen!
    So trotze ich dir, Himmel! Und plötzlich gab es keine Worte mehr, keine Gedanken. Ich zuckte, schwamm im Licht. Und als Dunkelheit und Kälte heraufstiegen, um mich einzuhüllen - es war nichts anderes als der Verlust meines Bewußtseins -, da erkannte ich, daß ich angefangen hatte zu fallen.
    Das Geräusch war das Rauschen der Luft, die an mir vorbeiflog, und mir war, als riefen mich die Stimmen der anderen, und in dem gräßlich tosenden Gewirr hörte ich deutlich die Stimme eines Kindes.
    Dann nichts mehr…
    Träumte ich?
    Wir waren in einem kleinen, engen Raum, einem Spital, das nach Krankheit und
    Tod roch, und ich deutete auf das Bett und auf das Kind, das dort auf dem Kissen lag, weiß und klein und halb tot.
    Scharfes Gelächter klang auf. Ich roch eine Öllampe - in dem Augenblick, da der Docht erlischt.
    »Lestat«, sagte sie. Wie schön ihre kleine Stimme klang.
    Ich bemühte mich um eine Erklärung, versuchte vom Schloß meines Vaters zu erzählen, vom Schneegestöber und von meinen Hunden, die dort warteten. Dorthin hatte ich gewollt. Ich hörte es plötzlich, das tiefe, kläffende Bellen der Mastiffs, wie es über die schneebedeckten Hänge heraufhallte, und fast sah ich die Türme des Schlosses selbst.
    Aber dann sagte sie:
    »Noch nicht.«
     
    Es war wieder Nacht, als ich aufwachte. Ich lag auf dem Wüstenboden. Der Wind war über die Dünen gestrichen und hatte mir einen feinen Schleier von Sand über die Glieder gelegt. Ich hatte überall Schmerzen.

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