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Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Titel: Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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schicken. Nichts dergleichen. Es fing mit einer neuen Jagdexpedition an, sozusagen mit einem Ausflug zu neuen Grenzen, einer Reise ins entlegenste Brasilien. Dort entdeckte ich das Okkulte, könnte man sagen, in den kleinen, verschlungenen Straßen des alten Rio, und es schien ganz genauso aufregend und gefährlich zu sein wie früher meine Tigerjagden. Das war es, was mich verlockte: die Gefahr. Und wie ich mich so weit davon entfernen konnte, weiß ich nicht.«
    Ich sagte nichts darauf, aber eins wurde mir klar: Es lag offensichtlich eine Gefahr darin, daß er mich kannte. Das mußte ihm gefallen haben. Ich hatte gedacht, es sei die Naivität des Gelehrten, was ihn beherrschte, aber das schien gar nicht der Fall zu sein.
    »Ja«, sagte er sofort, und seine Augen wurden groß, als er lächelte. »Genauso ist es. Obwohl ich ehrlich nicht glauben kann, daß Sie mir je etwas antun würden.«
    »Täuschen Sie sich nicht«, sagte ich unvermittelt. »Aber das tun Sie. Sie begehen die alte Sünde. Sie glauben an das, was Sie sehen. Ich bin aber nicht das, was Sie sehen.«
    »Inwiefern?«
    »Ach, kommen Sie. Ich sehe aus wie ein Engel, aber ich bin keiner. Die alten Regeln der Natur umfassen viele Geschöpfe wie mich. Wir sind schön wie die Diamantenschlange oder der gestreifte Tiger, aber wir sind erbarmungslose Killer. Sie lassen sich von Ihren Augen täuschen. Aber ich will mich nicht mit Ihnen streiten. Erzählen Sie mir diese Geschichte. Was ist in Rio passiert? Ich brenne darauf, es zu erfahren.«
    Leise Trauer überkam mich bei diesen Worten. Ich hätte gern gesagt: Wenn ich dich nicht als Vampirgefährten haben kann, dann laß zu, daß ich dich als Sterblichen kenne. Es erregte mich, sanft und spürbar, daß wir hier so zusammensaßen.
    »Gut«, sagte er. »Sie haben sich klar ausgedrückt, und ich habe verstanden. Als ich Vorjahren in Ihre Nähe kam, in dem Saal, in dem Sie sangen, und als ich Sie sah, als Sie das erstemal zu mir kamen - das hatte durchaus die dunkle Verlockung der Gefahr. Und daß Sie mich mit Ihrem Angebot in Versuchung führen - auch das ist gefährlich, denn ich bin nur ein Mensch, wie wir beide wissen.«
    Ich lehnte mich zurück, ein wenig glücklicher, und ich zog ein Bein hoch und bohrte die Ferse in die lederne Sitzfläche des alten Sessels. »Ich hab’s gern, wenn die Leute ein bißchen Angst vor mir haben«, sagte ich achselzuckend. »Aber was ist in Rio passiert?«
    »Ich stieß auf die Geisterreligion«, sagte er. »Candomble. Sie kennen das Wort?«
    Wieder zuckte ich leicht mit den Schultern. »Hab ein- oder zweimal davon gehört«, sagte ich. »Irgendwann gehe ich mal hin. Vielleicht schon bald.« Der Gedanke an die Großstädte Südamerikas blitzte auf, die Regenwälder, der Amazonas. Ja, ich hatte durchaus Appetit auf ein solches Abenteuer, und die Verzweiflung, die mich in die Wüste Gobi hinuntergetragen hatte, schien sehr weit weg zu sein. Ich war froh, daß ich noch lebte, und weigerte mich im stillen, mich dafür zu schämen.
    »Ach, wenn ich Rio noch einmal sehen könnte«, sagte er leise, mehr zu sich selbst als zu mir. » Natürlich ist es nicht mehr das, was es in jenen Tagen war. Jetzt ist es eine Welt von Wolkenkratzern und großen Luxushotels. Aber zu gern würde ich diese geschwungene Küste noch einmal sehen, den Zuckerhut und die Christusstatue auf dem Corcovado. Ich glaube nicht, daß es ein so schwindelerregendes Stück Geographie ein zweitesmal auf Erden gibt. Warum habe ich so viele Jahre vergehen lassen, ohne nach Rio zurückzukehren?«
    »Warum können Sie nicht einfach hinfahren, wenn Sie es wollen?« Ich fühlte plötzlich einen starken Beschützerdrang. »Der Haufen Mönche in London kann Sie doch bestimmt nicht daran hindern. Außerdem sind Sie der Boß.«
    Er lachte äußerst gentlemanlike. »Nein, sie würden mich nicht daran hindern«, sagte er. »Die Frage ist, ob ich noch das Stehvermögen habe, in geistiger wie in körperlicher Hinsicht. Aber darum geht es hier nicht; ich wollte Ihnen erzählen, was passiert ist. Oder vielleicht geht es doch darum. Ich weiß es nicht.«
    »Sie haben doch die Mittel, um nach Brasilien zu reisen, wenn Sie wollen?«
    »O ja, das war nie das Problem. Mein Vater war ein cleverer Mann, wenn es ums Geld ging. Infolgedessen habe ich darüber nie viel nachdenken müssen.«
    »Ich würde Ihnen das Geld bar auf die Hand geben, wenn Sie es nicht hätten.«
    Er schenkte mir sein wärmstes, tolerantestes Lächeln. »Ich bin alt«,

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