Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
daß sie noch vor dem Morgen sterben würde, nachdem sie sich gerade irgendwo durch die Hintertür hinausgestohlen hatte, wo man versucht hatte, sie einzusperren - das jedenfalls blökte sie in die Welt hinaus, entschlossen, sich nicht wieder einfangen zu lassen.
Wir waren ein großartiges Liebespaar. Sie hatte einen Namen für mich und ein dickes, warmes Bündel von Erinnerungen, und so tanzten wir zusammen in der Gosse, sie und ich, und ich hielt sie lange in den Armen. Sie war gutgenährt, wie so viele Bettler in diesem Jahrhundert, da die Lebensmittel in den westlichen Ländern so reichlich vorhanden sind, und ich trank langsam, oh, so langsam, und ich genoß es und fühlte, wie es meine verbrannte Haut durchrauschte.
Als ich fertig war, merkte ich, daß ich die Kälte sehr scharf empfand, und zwar schon die ganze Zeit. Ich fühlte jetzt alle Temperaturschwankungen mit größerer Schärfe. Interessant.
Der Wind peitschte mich, und das war mir zuwider. Vielleicht war tatsächlich ein wenig von meinem Fleisch abgebrannt. Ich wußte es nicht. Ich fühlte die nasse Kälte in den Füßen, und meine Hände taten so weh, daß ich sie in den Taschen vergraben mußte. Wieder erhaschte ich die Erinnerungen an den Winter in Frankreich in meinem letzten Jahr zu Hause, an den jungen sterblichen Landedelmann mit seinem Bett aus Stroh und seinen Hunden als einzige Gefährten. Alles Blut der Welt schien plötzlich nicht mehr genug zu sein. Zeit, mich noch einmal zu nähren und noch einmal.
Sie waren obdachlos, alle, aus ihren Hütten aus Müll und Pappkarton herausgelockt in die eisige Dunkelheit und zum Untergang verdammt - das sagte ich mir wenigstens, während ich stöhnte und schwelgte inmitten des Gestanks von fauligem Schweiß und Urin und Schleim. Aber das Blut war Blut.
Als die Uhren zehn schlugen, hatte ich immer noch Durst, und Opfer gab es immer noch reichlich, aber ich hatte keine Lust mehr, und es war auch nicht mehr wichtig.
Ich zog viele Straßen weiter ins modische West End und betrat dort einen dunklen kleinen Laden voll feiner, gut geschnittener Anzüge für Herren - ah, der gebrauchsfertige Reichtum dieser Jahre -, und ich stattete mich ganz nach meinem Geschmack mit grauer Tweedhose und Gürteljacke aus, und dazu nahm ich einen dicken weißen Wollpullover und sogar eine sehr hellgrün getönte Brille mit zierlichem Goldgestell. Dann wanderte ich weiter, zurück in die kalte Nacht voll wirbelnder Schneeflocken; ich sang vor mich hin und vollführte einen kleinen Steptanz unter der Straßenlaterne, wie ich es immer für Claudia getan hatte, und -
Wamm! Bamm! Da stand er, dieser wilde und schöne junge Gangster mit weindunstigem Atem, göttlich schmierig, und wollte mit dem Messer auf mich los, entschlossen, mich zu ermorden für Geld, das ich nicht hatte, und das erinnerte mich daran, daß ich selbst ein elender Dieb war, denn ich hatte eine komplette Garderobe aus feinster irischer Kleidung gestohlen. Hmmm. Aber wieder verlor ich mich in der engen, heißen Umarmung und zerquetschte dem Scheißkerl die Rippen, saugte ihn aus, bis er trocken war wie eine tote Ratte auf dem Dachboden im Sommer, und von Staunen und Ekstase erfüllt ging er unter. Bis zuletzt krallte er eine Hand schmerzhaft in mein Haar.
Er hatte ein bißchen Geld in der Tasche. Was für ein Glück. Ich legte es in den Kleiderladen für die Ausstattung, die ich mir genommen hatte; es schien mir mehr als angemessen zu sein, als ich kurz nachrechnete, was ich aber nicht besonders gut kann, übernatürliche Kräfte hin oder her. Dann schrieb ich ein paar Dankesworte, selbstverständlich, ohne zu unterschreiben. Und ich verschloß die Tür fest mit ein paar kleinen telepathischen Drehungen und machte mich wieder auf den Weg.
Fünf
E s schlug Mitternacht, als ich wieder in Talbot Manor ankam. Es war, als hätte ich das Haus noch nie gesehen. Ich hatte jetzt Zeit, im Schnee durch den Irrgarten zu streifen, das Muster der getrimmten Sträucher zu studieren und mir vorzustellen, wie der Garten im kommenden Frühling aussehen würde. Ein schönes altes Anwesen.
Dann waren da die engen, dunklen kleinen Zimmer selbst, dazu geschaffen, den kalten englischen Winter abzuhalten, und die kleinen, bleiverglasten Fenster, von denen jetzt viele hell erleuchtet waren und in der verschneiten Dunkelheit überaus einladend aussahen. David war offensichtlich mit seinem Abendessen fertig, und die Dienstboten - ein alter Mann und eine Frau - hantierten noch
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