Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
vollkommen gesund. Offensichtlich gefällt Ihnen, wie er aussieht. Ich werde Ihnen diverse Gesundheitsatteste vorlegen, wenn Sie wollen. Der Körper wurde auf das gründlichste untersucht und geprüft, bevor ich ihn übernahm. Oder stahl. Er ist auch ziemlich stark; das können Sie sehen. Er ist augenfällig stark, bemerkenswert stark…«
»Wie wollen Sie die Sache bewerkstelligen?«
»Wir tun es gemeinsam, Monsieur de Lioncourt«, sagte er äußerst höflich; sein Ton wurde mit jedem Satz, den er sprach, wohlerzogener und zuvorkommender. »Der Diebstahl des Körpers kommt auf keinen Fall in Betracht, wenn ich es mit einem Wesen wie Ihnen zu tun habe.«
»Aber Sie haben es versucht, nicht wahr?«
Er musterte mich kurz und wußte offenbar nicht recht, wie er darauf antworten sollte. »Nun, das können Sie mir nicht verdenken, oder?« sagte er beschwörend. »Ebenso wenig wie ich Ihnen verdenken kann, daß Sie Blut trinken.« Er lächelte, als er das Wort »Blut« aussprach. »Aber ich habe wirklich nur versucht, Ihre Aufmerksamkeit zu erregen, was nicht so einfach ist.« Er wirkte nachdenklich und absolut aufrichtig. »Überdies ist auf irgendeiner Ebene immer auch Kooperation erforderlich, gleichgültig, wie tief vergraben diese Ebene sein mag.«
»Ja«, sagte ich, »aber wie sieht die eigentliche Mechanik aus, wenn dieses Wort nicht zu plump ist? Wie kooperieren wir miteinander? Ich will Einzelheiten wissen. Ich glaube nicht, daß so etwas geht.«
»Ach, kommen Sie, natürlich glauben Sie es«, widersprach er sanft wie ein geduldiger Lehrer. Es war fast, als versuche er David zu verkörpern, nur ohne Davids Energie. »Wie sonst hätte es mir gelingen können, diesen Körper in Besitz zu nehmen?« Mit einer kleinen, illustrierenden Geste fuhr er fort: »Wir werden uns an einem passenden Ort treffen. Dann werden wir aus unseren Körpern heraussteigen, was Sie durchaus können und auch schon so überaus beredt in Ihren Schriften geschildert haben, und dann werden wir den jeweils anderen Körper in Besitz nehmen. Eigentlich ist nichts dabei - nur allumfassender Mut und Willenskraft.« Er hob die Tasse mit heftig zitternder Hand zum Mund und trank einen Schluck von seinem heißen Kaffee. »Bei Ihnen ist es nur die Frage, ob Sie den Mut dazu aufbringen, weiter nichts.«
»Was wird mich in dem neuen Körper festhalten?«
»Es wird niemand da sein, Monsieur de Lioncourt, der Sie hinausdrängt. Es ist etwas völlig anderes als Besessenheit, verstehen Sie? Oh, einen bewohnten Körper in Besitz zu nehmen, das ist eine Schlacht. Aber wenn Sie in diesen Körper eindringen, werden Sie nicht den leisesten Widerstand finden. Sie können bleiben, bis Sie belieben loszulassen.«
»Das ist mir zu verwirrend!« sagte ich merklich verärgert. »Ich weiß, daß unzählige Wälzer über diese Fragen geschrieben worden sind, aber irgend etwas kommt mir da sonderbar vor…«
»Lassen Sie mich die Perspektive zurechtrücken«, sagte er mit gedämpfter Stimme und mit erlesener Zuvorkommenheit. »Wir haben es hier mit Naturwissenschaft zu tun, aber es ist eine Naturwissenschaft, die von wissenschaftlichen Köpfen noch nicht vollständig kodifiziert worden ist. Was wir haben, sind die Erinnerungen von Dichtem und Abenteurern des Okkulten, die völlig außerstande sind, zu anatomisieren, was da stattfindet.«
»Genau. Wie Sie bereits erwähnten, ich habe es schon selbst getan: Ich habe mich schon außerhalb des Körpers bewegt. Aber ich weiß nicht, was dabei stattfindet. Warum stirbt der Körper nicht, wenn man ihn verläßt? Das verstehe ich nicht.«
»Die Seele besteht nicht nur aus einem einzigen Teil, ebenso wenig wie das Gehirn. Sie wissen, daß ein Kind ohne Kleinhirn zur Welt kommen kann; der Körper kann leben, solange der Hirnstamm vorhanden ist.«
»Ein schrecklicher Gedanke.«
»Kommt immer wieder vor; das versichere ich Ihnen. Unfallopfer, deren Hirn irreparabel beschädigt wurde, können weiteratmen und sogar im Schlaf gähnen, weil der Hirnstamm weiter funktioniert.«
»Und von solchen Körpern können Sie Besitz ergreifen?«
»O nein, ich brauche ein gesundes Hirn, um den Körper vollständig in Besitz zu nehmen; es ist unerläßlich, daß alle diese Zellen gut funktionieren und imstande sind, sich mit dem eindringenden Geist zusammenzuschließen. Achten Sie auf meine Worte, Monsieur de Lioncourt. Gehirn ist nicht gleich Geist. Aber nochmals, wir reden hier nicht von Besessenheit, sondern von etwas, das unendlich
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