Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
hatte; und ich mußte mich diesem Körper überlassen, also mich in diesen Körper einschließen, wirklich hineingehen, all seine Winkel ausfüllen, ohne in Panik zu geraten. Und dann mußte ich mit seinen Augen sehen.«
Ich nickte still, die Spur eines Lächelns auf den Lippen. Da ich meinen Vampirkörper einmal gegen einen menschlichen getauscht hatte, konnte ich Memnochs Erfahrungen ein ganz klein wenig nachfühlen. Ich wollte aber nicht aufschneiderisch behaupten, ich hätte ihn ganz verstanden.
»Der Vorgang war nicht schmerzhaft«, versicherte er. »Er erforderte nur Unterwerfung. Und ich hatte keinen Anlaß, mein innerstes Selbst, meinen Wesenskern, mit Fleisch zu umhüllen, außer den, daß das in der Natur begründet war - um Gottes bevorzugten Ausdruck zu benutzen. Nur die Flügel ließ ich bei diesem Konzept weg, und so stand ich also da, groß wie ein Engel, und als ich zu einem nahen Teich schritt und in das klare Wasser schaute, sah ich Memnoch zum ersten Mal als stoffliches Wesen. Aufs Haar genau glich ich mir selbst, das helle Haar, die Augen, die Haut, all die Gaben, die Gott mir in unsichtbarer Form geschenkt hatte, manifestiert im Fleisch.
Ich sah sofort, daß das alles ein bißchen zuviel war! Ich war einfach zu groß, und ich glühte förmlich aus meinem inneren Kern heraus! So ging das nicht. Also machte ich mich daran, meinen Körper umzuformen, die Masse zu verringern, bis das Ganze der menschlichen Größe angenähert war.
All das wirst du auch lernen, wenn du dich mir erst angeschlossen hast«, sagte er. »Wenn du dich entscheidest, mit mir zu kommen, zu sterben und mein Stellvertreter zu sein. Soviel will ich jetzt nur sagen, daß es weder unmöglich noch fürchterlich einfach ist. Aber es ist auch nicht so, als lehnte man sich zurück, drückte die Tasten eines Computers, und die Maschine führte einen Befehl nach dem ändern aus. Andererseits ist es auch nicht besonders beschwerlich oder ein kraftraubender geistiger Prozeß. Man braucht nur das Wissen, die Geduld und den Willen eines Engels.
So stand also ein Mann an dem Teich, nackt, blondhaarig, mit hellen Augen, den Leuten, die in dieser Gegend lebten, nicht unähnlich, wenn auch vielleicht wesentlich vollkommener, und mit Organen ausgestattet, die von ganz ordentlicher, wenn auch nicht übermäßiger Größe waren.
Als nun mein Innerstes sich in diesen Organen ausbreitete - in Hoden und Penis, um genau zu sein -, überkamen mich Erkenntnisse, die ich als Engel absolut nicht gekannt hatte. Es war eine Mischung unterschiedlichster Empfindungen. Ich lernte den Geschlechtsunterschied, das Gefühl der Männlichkeit kennen, und aus erster Hand erfuhr ich menschliche Verletzlichkeit, die ich vorher nur hatte beobachten, erspüren können; und ich war sehr überrascht, wie mächtig ich mich dabei fühlte.
Ich hatte erwartet, in dieser Gestalt vor Demut zu erbeben! Zu zittern vor Beschämung schon allein wegen meiner geringen Größe, meiner Unbeweglichkeit und wegen einer Menge weiterer Dinge - die du alle empfunden hast, als du deinen Vampirkörper gegen den eines Menschen getauscht hattest.«
»Ich kann mich verdammt gut daran erinnern.«
»Aber all das fühlte ich nicht. Ich hatte nie vorher einen stofflichen Körper gehabt. Es war mir noch nie in den Sinn gekommen, daß ich das tun könnte, und nie und nimmer hatte ich mir auch nur vorgestellt, wie ich in einem irdischen Spiegel aussehen könnte. Ich kannte mein Äußeres, weil es sich in den Augen der anderen Engel spiegelte, ich kannte meine Körperteile, weil ich sie mit meinen Engelsaugen wahrnehmen konnte.
Aber jetzt, jetzt war ich ein Mensch. Ich spülte das Gehirn in meinem Schädel, seinen komplizierten und beinahe chaosartigen Mechanismus. Diese Gewebeschichten in der Gehirnrinde, die die Informationen aus den frühesten Stufen der Evolution enthielten und gleichzeitig mit höhergearteten Zellen verbanden in einer Art und Weise, die völlig unlogisch schien und dennoch völlig natürlich - natürlich, wenn man weiß, was ich als ein Engel weiß.«
»Und das ist?« fragte ich, so höflich es mir nur möglich war.
»Zum Beispiel kann man von Gefühlsregungen, die das limbische System des Gehirns ansprechen, überwältigt werden, ohne daß man sich ihrer vorher bewußt wird«, sagte er. »Das kann einem Engel nicht passieren. Unsere Gefühle können nicht an unserem Bewußtsein vorbeischlüpfen. Irrationaler Schrecken ist uns fremd. Denke ich wenigstens. Wie auch immer,
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