Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
also ein recht dauerhaftes Amt inmitten der Verdammten.«
»Und auf der Erde? Welche Macht habe ich dort? Ziegengott oder Mensch, was ist meine Aufgabe?«
»Was du tun sollst? Warne die Menschen. Ermahne sie, damit sie zu mir kommen und nicht nach Scheol!«
»Und das kann ich so machen, wie ich es mir vorstelle? Indem ich ihnen sage, welch ein gnadenloser Gott Du bist und daß es eine Sünde ist, in Deinem Namen zu töten, daß Leid selten zu Erlösung führt, sondern viel eher zu Qualen und Verdammnis? Ich kann ihnen die Wahrheit sagen? Daß sie Deinen Religionen, Deinen heiligen Kriegen, Deinem großartigen Märtyrertum entsagen müßten, wenn sie zu Dir kämen? Sie sollten zu verstehen suchen, was die Geheimnisse des Fleisches und die Ekstasen der Liebe ihnen offenbaren? Diese Erlaubnis gibst Du mir? Du erlaubst mir, ihnen die Wahrheit zu sagen?«
»Sag ihnen, was du willst! Und jedesmal, wenn ein Mensch sich deiner Lehren wegen von meiner Kirche, meinen Offenbarungen abwendet - so mißverstanden und verfälscht sie auch sein mögen -, jedesmal gehst du das Risiko ein, einen weiteren Schüler in deiner Höllenschule aufzunehmen, eine weitere Seele, die du reformieren mußt. Deine Hölle wird gestopft voll sein, bis zum Überfließen!«
»Nicht durch meine Werke, Herr«, sagte Memnoch. »Sie wird überfließen, aber das werde ich Dir zu verdanken haben!«
»Wie kannst du es wagen!«
»So laß es geschehen, Mein Herr, immerdar, wie Du gesagt hast, mag die Natur sich entfalten. Nur bin ich jetzt ein Teil von ihr, die Hölle ist ein Teil von ihr. Und wirst Du mir jene Engel zur Seite stellen, die meinen Glauben teilen, für mich arbeiten und die Dunkelheit mit mir zusammen ertragen wollen?«
»Nein! Nicht einen Engel will ich dir geben! Rekrutier deine Helfer bei den erdgebundenen Seelen. Mach die zu deinen Dämonen! Die Wächter, die wie du stürzten, sind willens zu büßen. Nicht einen stelle ich dir zur Seite. Du bist ein Engel. Steh für dich selbst ein.«
»Sehr gut, ich stehe für mich selbst ein. Und wenn Du mich auch mit dieser irdischen Form absichtlich behinderst, ich werde dennoch triumphieren. Von Scheol aus werde ich Dir mehr Seelen ins Himmelreich senden, als Du direkt durch das Himmelstor bringen wirst. Ich werde Dir mehr geläuterte Seelen zurühren, die vom Paradiese singen, als Du je durch Deinen engen Tunnel hindurchschaffen kannst. Ich werde es sein, der Dir den Himmel füllt und Deine Herrlichkeit mehrt. Du wirst sehen!«
Beide verstummten, Memnoch voller Wut, und auch Gott, der Menschensohn, schien erregt. Zwei Gestalten, die einander ansahen, beide von gleicher Größe, nur mit dem Unterschied, daß Memnochs weit ausgespreizte Schwingen den Anschein einer gewissen Macht erweckten und Gott das um so mächtigere, herzzerreißend schöne Licht ausstrahlte.
Unerwartet lächelte Gott. »So oder so triumphiere ich, nicht wahr?«
»Ich verfluche Dich!« rief Memnoch.
»Nein, das tust du nicht«, sprach Gott betrübt und sanft. Er streckte die Hand aus und berührte Memnochs Wange, und der Abdruck Seiner zornigen Hand verschwand von der Engelshaut. Gott neigte sich zu Memnoch und küßte ihn auf den Mund.
»Ich liebe dich, du mein mutiger Widersacher! Daß ich dich schuf, ist gut, genauso gut wie alles, was ich sonst geschaffen habe. Bringe mir Seelen. Auch du bist nur Bestandteil des Kreislaufs, Teil der Natur, genauso wunderbar wie ein Blitz oder ein heftiger Vulkanausbruch, wie ein Stern, der plötzlich in einer unendlich weit entfernten Galaxis explodiert, so daß abertausend Jahre vergehen, bis sein Licht die Erde erreicht.«
»Du bist ein erbarmungsloser Gott«, sagte Memnoch, ohne auch nur einen Zentimeter zu weichen. »Ich werde sie lehren. Dir zu vergeben für das, was Du bist majestätisch, unendlich, schöpferisch und unvollkommen.«
Gott lachte leise und küßte Memnoch abermals, diesmal auf die Stirn. »Ich bin ein weiser und geduldiger Gott. Ich bin der Eine, der dich schuf.«
Die Bilder vergingen. Nicht, daß sie langsam verblaßten, sie waren einfach nicht mehr da.
Ich war allein auf dem Schlachtfeld. Der Gestank hing über mir wie eine Gaswolke und vergiftete jeden meiner Atemzüge. Denn so weit ich sehen konnte, überall lagen Tote.
Ein Geräusch schreckte mich auf. Die hagere, hechelnde Gestalt eines Wolfes näherte sich mir, mit gesenktem Kopf folgte er einer Fährte. Als er mich mit seiner Nase anstieß, sah ich seine schrägen, aufwärtsgerichteten Augen, roch
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