Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
Leiden geweiht werde, als Heiligtum bewahrt werde, ein Mittel zum Zweck, und der Zweck war Erleuchtung, Überhöhung der Seele.
Der Mythos vom leidenden, sterbenden Gott jedoch, sei es der der Sumerer oder der griechische Dionysos oder welche irdische Gottheit auch immer, deren Tod und Zerstückelung der Schöpfung vorausgingen - es war ein absolut menschlicher Mythos, etwas von Menschen Erdachtes, die sich eine Schöpfung aus dem Nichts, eine Schöpfung, die kein Opfer verlangte, nicht vorstellen konnten. Der sterbende Gott, der die Menschheit gebiert, war eine sehr frühe Idee in den Köpfen derer, die noch zu primitiv waren, um sich etwas Absolutes, Vollkommenes vorstellen zu können. Und so pfropfte er - der Leibhaftige Gott - sich auf diesen menschlichen Mythos, der doch nur der Versuch war, Dingen eine Erklärung, eine Bedeutung zuzuweisen, die sie unter Umständen gar nicht haben.«
»Ja.«
»Welches Opfer brachte Er denn, als Er die Welt schuf?« fragte Memnoch. »Er war weder Tiámat, den Marduk erschlug, noch Osiris, der in Stücke zerhackt wurde. Was gab Er, der allmächtige Gott, auf, damit die Materie und die Welt entstehen konnten? Ich kann mich nicht erinnern, daß ihm etwas genommen wurde. Daß es aus Ihm, von Ihm kam, das ist wahr, doch ich habe keine Erinnerung daran, daß Er geschmälert, verkleinert, verstümmelt oder verringert worden wäre durch den Akt der Schöpfung des physikalischen Universums! Nach der Schaffung der Planeten und der Sterne war Er immer noch der gleiche Gott! Wenn überhaupt, hatte Er dazugewonnen, oder zumindest schien es in den Augen Seiner Engel so, als sie von ungekannten, unterschiedlichsten Erscheinungsbildern Seiner Schöpfung sangen. Und als die Evolution ihren Siegeszug auf dem von Ihm vorgegebenen Pfad antrat, da wuchs und vergrößerte sich Seine ureigenste Natur als Schöpfer in unseren Augen.
Doch als Er als Gott im Fleische auftrat, ahmte er Mythen nach, die die Menschen in dem Bemühen geschaffen hatten, alles Leiden zu heiligen, um sich selbst zu versichern, daß Geschichte nicht Grauen ist, sondern einen Sinn hat. Er nahm eine von Menschen gemachte Religion und schüttete Seine göttliche Gnade über diese Götzenbilder aus. Durch Seinen Tod rechtfertigte Er das Leiden, wohingegen es in Seiner Schöpfung keine Rechtfertigung dafür gab, verstehst du?«
»Seine Schöpfung war unblutig und erforderte kein Opfer«, sagte ich. Meine Stimme klang dumpf, doch mein Geist hatte noch nie so lebhaft gearbeitet. »So meinst du es doch. Aber Er ist tatsächlich der Auffassung, daß Leiden heilig ist oder sein kann. Nichts verkommt. Alles wird verwendet.«
»Ja, aber ich vertrete den Standpunkt, daß er den einen furchtbaren Makel Seines Kosmos - menschlichen Schmerz, menschliches Elend, unaussprechliche menschliche Leidensfähigkeit - aufgriff und ihm einen Platz zuwies, indem er die schlimmsten abergläubischen Vorstellungen der Menschen benutzte.«
»Aber wenn jemand stirbt«, fragte ich, »was passiert dann? Finden die, die an Ihn glauben, denn auf Anhieb den Tunnel und das Licht und den Weg zu ihren Liebsten?«
»Wenn sie irgendwo in Frieden und Wohlstand leben, ist das durchaus so, ja. Sie steigen ohne Haßgefühle, ohne Unmut direkt empor in den Himmel. Aber das geschieht ebenso mit einigen, die nicht an Ihn oder seine Lehren glauben.«
»Weil sie schon die Erleuchtung erfahren haben?«
»Ja. Und natürlich befriedigt Ihn das und vergrößert Sein Reich, und für den Himmel sind diese Seelen, die aus allen Ecken der Welt kommen, stets von Vorteil und eine Bereicherung.«
»Und die Hölle ist ebenfalls voller Seelen?«
»An Größe übertrifft die Hölle den Himmel derart, daß es schon lachhaft ist. Wo auf diesem Planeten hat Er denn geherrscht, ohne daß es zu Selbstaufopferung geführt hätte, zu Ungerechtigkeit, Verfolgung, Folter, Krieg! Von Tag zu Tag vermehrt sich die Zahl meiner bestürzten, verbitterten Schüler! In Zeiten schlimmster Entbehrungen und Schrecken gehen nur ganz wenige Seelen überhaupt in Seinen Frieden ein.«
»Und Ihm ist es gleichgültig?«
»Genau. Er sagt, wenn vernunftbegabte Wesen leiden, ist es vergleichbar mit Verwesung; es ist wie Dünger für das Wachstum ihrer Seelen! Von Seiner erhabenen Höhe herab schaut Er auf ein Massaker, und Er sieht Herrlichkeit. Er sieht, daß die Menschen für ihre Angehörigen nie tiefere Liebe empfinden, als wenn sie deren Verlust beklagen müssen; daß sie nie stärker lieben, als
Weitere Kostenlose Bücher