Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
ein wenig haarspalterisch. »Du solltest den Tod nicht übermäßig optimistisch betrachten. Ich warne dich, meine Sicht der Dinge verändert sich. Der Atheismus und Nihilismus meiner Jugendjahre scheint mir recht hohl, wenn nicht sogar etwas eingebildet.«
Er lächelte ablehnend, wie damals, als er noch sterblich gewesen war und die sichtbaren Zeichen ehrbaren Alters getragen hatte.
»Hast du je die Stories von Hawthorne gelesen?« fragte er leise.
Wir hatten jetzt die Straße erreicht, überquerten sie, gingen langsam an dem Brunnen vorm Plaza vorbei.
»Ja, irgendwann mal«, sagte ich.
»Und erinnerst du dich an Ethan Brands Suche nach der einen unverzeihlichen Sünde?«
»Ich glaube ja. Er machte sich auf den Weg und ließ seinen Gefährten zurück.«
»Ruf dir diesen Abschnitt ins Gedächtnis zurück«, beharrte er sanft.
Und während wir die selbst um diese Zeit noch betriebsame, erleuchtete Fifth Street hinuntergingen, zitierte er die Worte: »Er hatte sich von dem Band der Humanität gelöst, das die Menschheit verbindet. Er war nicht mehr der Bruder seiner Mitmenschen, der Kammern und Kerker der gemeinsamen menschlichen Natur mit den Schlüsseln geheiligten Mitgefühls öffnet und so mit Recht alle Geheimnisse des Lebens teilt; er war jetzt ein kalter Beobachter; er betrachtete die Menschheit als Objekt seines Experimentes, und schließlich machte er Männer und Frauen zu seinen Marionetten, die, von ihm dirigiert, zu den unglaublichen Verbrechen getrieben wurden, die er für seine Studie benötigte.«
Ich schwieg. Eigentlich wollte ich widersprechen, aber das wäre nicht ehrlich gewesen. Ich wollte sagen, daß ich nie, niemals Menschen wie Marionetten behandeln würde. Ich hatte nichts anderes getan, als Roger zu beobachten, verdammt noch mal, und Gretchen im Dschungel. Ich hatte nicht die Fäden gezogen, sondern Ehrlichkeit hatte sie und mich zusammen ins Verderben gestürzt. Aber eigentlich meinte er auch nicht mich mit diesen Worten. Er meinte sich selbst damit, den Graben, durch den er sich von den Menschen getrennt fühlte. Er war auf dem Wege, ein Ethan Brand zu werden.
»Laß mich noch einen Satz sagen«, bat er mich höflich und setzte zu einem weiteren Zitat an. »So also wurde Ethan Brand zum Unhold von dem Moment an, als seine Moralvorstellungen nicht mehr Schritt hielten mit seiner intellektuellen Entwicklung -« Er brach ab.
Ich antwortete nicht.
»Das ist unser Fluch«, flüsterte er. »Unsere moralische Entwicklung ist abgeschlossen, doch unser Intellekt wächst und wächst.«
Ich schwieg noch immer. Was sollte ich auch sagen? Verzweiflung war mir nur zu vertraut, doch der Anblick einer wunderschönen Schaufensterpuppe konnte sie bannen, das Spiel des Lichts auf einer Turmspitze konnte sie vertreiben, der riesige geisterhafte Schemen von St. Patrick’s konnte mich erleichtern. Und später kam die Verzweiflung wieder.
Bedeutungslos, hätte ich beinahe laut gesagt, aber ich sagte etwas völlig anderes. »Ich muß an Dora denken.«
Dora.
»Ja, und das habe ich dir zu verdanken«, antwortete er, »daß auch ich jetzt Dora habe, nicht wahr?«
Kapitel 6
D ie Frage war jetzt: Was sollte ich Dora erzählen, und vor allen Dingen, wie und wann sollte das geschehen?
Früh am nächsten Abend machte ich mich zusammen mit David auf den Weg nach New Orleans.
In meinem Stadthaus an der Rue Royale war von Louis weit und breit nichts zu sehen, aber das war keineswegs ungewöhnlich. Immer häufiger neigte er dazu umherzuschweifen. Selbst in Paris hatte David ihn schon gesehen, in Armands Gesellschaft. Das Stadthaus war makellos, zeitlos schön, eingerichtet mit den von mir so geliebten Louis-XV.-Möbeln, prachtvollen Tapeten und den kostbarsten Teppichen.
David war das Haus natürlich vertraut, obwohl er seit über einem Jahr nicht hiergewesen war. In einem der vielen wie aus dem Bilderbuch gestalteten Schlafräume - überschwemmt mit safranfarbener Seide und ausgefallenen türkischen Tischchen und Wandschirmen -stand immer noch sein Sarg, in dem er während seines ersten kurzen Aufenthalts als einer der Unseren zu schlafen pflegte. Selbstverständlich war dieser Sarg entsprechend getarnt. Wie fast alle Zöglinge, wenn sie nicht gerade Nomaden von Natur aus sind, hatte auch David unweigerlich auf einem echten Sarg bestanden, der aber geschickt in einer massiven bronzenen Truhe verborgen war, die Louis im nachhinein dafür ausgewählt hatte - ein klobiges, rechteckiges Ding, unförmig wie
Weitere Kostenlose Bücher